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Info des Strafvollzugsarchivs

Buchempfehlung

Olaf Heischel: §455 StPO - Die Haftverschonung aus Gesundheitsgründen in ihren rechtlichen Grundlagen und in der Praxis. Aachen: Shaker Verlag 1998, 276 Seiten Text, 63 Seiten Anhang. DM 84.00

Es sollte keine Frage sein, daß bei schweren Erkrankungen eines Verurteilten die Vollstreckung der Strafe (mindestens zunächst einmal) zurücktreten muß. §455 StPO gibt der Vollstreckungsbehörde dazu die Möglichkeit des Haftaufschubs bzw. der Haftunterbrechung. Wer etwas länger mit dem Strafvollzug zu tun hat, weiß jedoch, daß auch bei schwersten Erkrankungen die Strafe in der Regel unerbit-terlich weiter vollstreckt wird. In der Korrespondenz des Strafvollzugsarchivs finden sich viele Fälle erheblicher, lebensbedrohender oder chronischer Krankheiten, die nicht zur Haftunterbrechung geführt haben. Meist erscheint den Anstaltsärzten eine Behandlung in der Krankenabteilung oder die Verlegung in ein Vollzugskrankenhaus ausreichend. Hin und wieder bescheinigen aber auch Anstaltsärzte „Vollzugsuntauglichkeit", ohne daß die Haft durch die Vollstreckungsbehörde unterbrochen wird. Merkwürdigerweise gibt es bislang nicht eine einzige umfassende wissenschaftliche Erörterung dieses Themas. Jetzt liegt eine solche endlich vor: als Doktorarbeit eines Berliner Anwalts und Anstaltsbeirats.
Der Autor hat sich seine Arbeit nicht leicht gemacht. Er hat nicht nur die heutige Rechtslage (§455 StPO und verwandte Vorschriften) ausführlich dargestellt, sondern auch die Praxis dokumentiert. Dazu hat er einerseits die Berliner Gutachtenpraxis der Jahre 1987-1994 statistisch ausgewertet, andererseits eine Reihe ihm persönlich bekannte Fälle ausführlich analysiert. Er kommt zum Ergebnis: „§455 StPO wird in der Praxis nicht angewandt, weil er nicht handhabbar ist." Das geltende Recht kenne nur ein Alles-oder-Nichts: Vollstreckung oder Verschonung. Wenn die Strafe einmal angetreten sei, werde eine Haftverschonung kaum noch gewährt. Ein zentraler Kritikpunkt ist ferner, daß nach geltendem Recht die Vollstreckung nicht unterbrochen werden darf, „wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen". Hier liege „der Hauptanteil an Verwirrung, Rechtsunsicherheit, Rechtsanwendungsungleichheit und verfassungsfeidlichen Verstößen gegen Individualgrundrechte" (S.270). Tatsächlich hat er in Berlin in einem Jahr nur 10 Fälle gefunden, in denen die Frage der Haftfähigkeit während der Inhaftierung auch nur begutachtet wurde. Wenn Haftverschonungen überhaupt erfolgen, dann eher im Gnadenwege als auf dem rechtlichen Weg des §455 StPO.
Das Buch stellt hohe Anforderungen an seine Leser (u.a. ist es sehr klein gedruckt), aber auch an den Gesetzgeber. Olaf Heischel schlägt vor, die gesetzliche Regelung wesentlich zu verändern. Anstelle des Alles-oder-Nichts möchte er ein differenziertes Instrumentarium setzen, welches dem Einzelfall angemessen ist: Bewährung mit oder ohne Auflagen (à la §§ 56, 57 StGB), Zurückstellung der Vollstreckung zur Behandlung (a la § 35 BtMG), Verlegung in Krankenhäuser außerhalb des Vollzuges etc. Besorgnisse der öffentlichen Sicherheit sollen vorrangig auf andere Weise als durch weitere Vollstreckung befriedigt werden: durch geeignete Auflagen (Aufsicht, Betreuung), in Ausnahmefällen durch Aufsicht und Betreuung in einer Heilanstalt. Es wäre unrealistisch anzunehmen, daß dies alles bald vom Gesetzgeber aufgegriffen werden wird. Immerhin liegt jedoch erstmals eine wissenschaftliche Arbeit vor, auf die sich die Kritiker und Reformer beziehen können.

Strafvollzugsarchiv, FB6, Universität, 28334 Bremen (Juni 1998)

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