Daß im Leben nicht immer alles so läuft, wie man es gerne hätte, ist
eine alte Geschichte und daher völlig normal. Daß auch im Knast nicht immer alles so
läuft, wie es eigentlich laufen sollte, ist auch eine alte Geschichte, aber eine endlose.
Und die ist noch normaler, als alle Geschichten, die einer erfinden könnte. Zum Beispiel
die berühmte" Geschichte von dem Türstopper, der von seiner Geburt bis zu
seiner letztendlichen Bestimmung einen langen Weg zurücklegen mußte.
Ein alter Kunde von Justiz und Strafvollzug betrat, nach sechzehnjähriger Abwesenheit
bzw. Abstinenz, wieder einmal die geheiligten Hallen von Santa Fu", um dort ein
weiteres Mal die verquere Welt des liberalen Hamburger Strafvollzuges zu genießen.
Insgeheim hatte er befürchtet, daß sich während seiner Abwesenheit etwas verändert
haben könnte und er sich nicht mehr zurecht fände. Doch alle seine Befürchtungen
erwiesen sich als unbegründet und daher müßig. Selbstverständlich erwies sich der
Hamburger Vollzug auch jetzt noch, kurz vor der Jahrtausendwende, als zuverlässig und
beständig in seiner Verquertheit. Und als der alte Kunde dann auch noch
öffentlich" nachlesen konnte, daß sich in all den Jahren seiner Abwesenheit
tatsächlich nichts verändert hatte, überkam ihn Frohsinn und auch ein wenig Heiterkeit.
Das Protokoll der Insassenvertretung, welches gegenüber der Zentrale im Glaskasten
aushing und das der alte Kunde las, war vom 3. März 1998 datiert. Und da stand schwarz
auf weiß unter Punkt 1: Herr K. bemängelt, daß der Türstopper immer noch nicht
angebracht worden ist. Exakt vor 20 Jahren hatte der alte Kunde denselben oder einen
ähnlichen Text gelesen. Und auch die Antwort der Anstaltsleitung von damals unterschied
sich nur unwesentlich von der Antwort der Anstaltsleitung, die nun das Ruder in Händen
hält: Herr Soundso sagt zu, daß der Stopper schnellstens angebracht wird.
Damals hatte ein anderer Herr Soundso dasselbe zugesagt. Doch die Soundso kommen und
gehen, das Problem aber bleibt ungelöst bestehen. Nirgendwo trifft diese uralte
Binsenweisheit mehr ins Schwarze als bei Justiz und Strafvollzug.
Und so muß man wohl von einer gewissen Symptomatik sprechen, die das gesamte System des
Hamburger Strafvollzugs kennzeichnet: Nicht eingehaltene Zusagen und über die Jahrzehnte
praktizierte Verschleppungstaktik.
Der alte Kunde war darüber keineswegs erstaunt oder gar beunruhigt. Sein alter Knast
hatte sich nicht verändert. Alles war so, wie es immer gewesen ist. Er mußte also nicht
die Mühsal des Umdenkens auf sich nehmen. Und er mußte auch nicht befürchten, daß der
moderne Hamburger Strafvollzug plötzlich einen Quantensprung tat und es sich von heute
auf morgen anders überlegte. Fortschritt, das war dem alten Kunden jetzt klar, ist nicht
Sache von Justiz und Strafvollzug. Fortschritt ist von Übel. Und nichts ist schwerer und
erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zum Fortschritt zu befinden und
laut zu sagen: Nein!
Und so kommt es, daß die Menschen in Santa Fu" seit 119 Jahren auf den
Fortschritt warten und gar nicht verstehen können, daß er (der Fortschritt) sie immer
noch nicht erreicht hat. Ihnen sei gesagt: Wir alle sind Teile einer endlosen Geschichte
und das Warten auf den Fortschritt schärft unseren Sinn für Zeit und Ziel.
Dieter Held