Initiative zur politischen Diskussion
Zusammen mit den Gefangenen
Naunynstr. 60, 10998 Berlin
Berlin, den 23. Oktober 1998
Herrn Gerhard Schröder
und die Abgeordneten im Bundestag,
die einen Neuanfang in der Politik wollen
553113 Bonn
Sehr geehrte Menschen,
denen durch die Bundestagswahl die Legislative und die Exekutive anvertraut wurde!
Mit der Bundestagswahl ist Ihnen der deutliche Auftrag zur Veränderung
der Politik erteilt worden. Im Wahlkampf haben Sie gesagt, daß Sie falsche Tendenzen der
Gesetzgebung _ z.B. im Bereich Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall _
zurücknehmen und neue Initiativen für mehr Gerechtigkeit _ z.B. im Steuerrecht oder
StaatsbürgerInnenrechrt _ anpacken wollen. Wir verfolgen diesen Neuanfang mit Interesse
und wollen unseren Beitrag innerhalb einer gesellschaftlichen Diskussion ergreifen, ohne
die er scheitern würde.
Die bestehenden Gesetze und Verwaltungsvorschriften haben zu ungerechten Situationen in
der Gesellschaft beigetragen, Elend hingenommen, Aggressionen geschürt und überfüllte
Gefängnisse und Abschiebehaftanstalten hinterlassen. Wir meinen, daß bei der
Überwindung strukturellen Unrechts die Opfer nicht vergessen werden dürfen. Ihre
Erfahrung muß mit in die gesellschaftliche Diskussion eingehen, damit nicht unter neuen
Vorzeichen alte Repressionen weitergehen.
Wie es nach einem Tarifabschluß dazugehört, alte Anzeigen und gerichtlichen
Streitigkeiten beiseite zu legen (Maßregelungsklausel), oder wie die Entlassung der
Gefangenen in der jüdisch/christlichen Traditionen Teil des Neuanfangs (Gnadenjahr _ die
Wiederherstellung des gleichen Rechtes) ist oder wie es in der Geschichte der
Bundesrepublik nach grundlegend veränderten Situationen und nach Gesetzesänderungen
einige Amnestiegesetzes gab, so scheint es uns in der jetzigen Situation des Neuanfangs
notwendig, ein großzügiges Amnestiegesetz durch die neue Bundesregierung oder einzelne
Fraktionen in den Bundestag einzubringen und zu beschließen. Damit wird der Wille zum
Neuanfang unterstrichen; den Opfern struktureller Gewalt wird entgegengegangen und die
können mit ihrer besonderen Kompetenz wieder in Freiheit an der gesellschaftlichen
Diskussion teilnehmen. Außerdem sollte unserer Ansicht nach sofort die fragwürdige
Abschiebung von Menschen in besonderen Härtefällen gestoppt, die Entlassung von
Häftlingen nach einmonatigem Aufenthalt in einem Abschiebeverwahrsam verfügt und Kindern
und Jugendlichen entsprechend den UN Kinderkonventionen der Aufenthaltsstatus nicht
aberkannt werden, durch die sie in die rechtliche Illegalität geraten.
Selbst wenn die gesetzlichen Einseitigkeiten nicht bestehen würden, entstehen auch in
Rechtsstaaten mit einer guten unabhängigen Rechtsprechung über längere Zeit eine
größere Anzahl von Ungerechtigkeiten,
- weil ein Mensch ohne rechtlichen Beistand seine Rechte vor Gericht schlechter zu Gehör
bringen kann als jemand mit einem guten Rechtsanwalt,
- weil auch eine unabhängige Justiz Teil der Gesellschaft ist und von den Strömungen in
ihr beeinflußt wird. Von einer starken Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung bleibt
sie nicht unberührt. Selbst Taxifahrer wurden für die Erfüllung ihrer
Beförderungspflicht zu Haftstrafen verurteilt, weil ihre Fahrgäste bei einer
polizeilichen Kontrolle keinen gültigen Aufenthaltstatus nachweisen konnten (morgen
können nach dieser Logik Bäcker für den Verkauf von Brot an Flüchtlinge verurteilt
werden),
- weil Deutsche viele Straftaten" nie begehen können, für die Ausländer
verurteilt werden (Ausländer straf"recht),
- weil die Justiz immer überfordert ist, sich mit ihren Mitteln mit den politischen
Motiven von Menschen ausreichend auseinander zusetzen und sie für die Gesellschaft
fruchtbar zu machen. Fehlende politische Auseinandersetzungen und Entscheidungen füllen
dann Gefängnisse fast direkt.
Es lassen sich noch viele Aspekte aufzählen, die es uns drängend erscheinen lassen,
jetzt ein großzügig bemessenes Amnestiegesetz in den Bundestag einzubringen und zu
beschließen. Die Gesellschaft aus der Sicht der Gefangenen zu sehen, ist uns mit dem
Engagement in unserer Initiative wichtig geworden. Dieser Blickwinkel ist für eine
menschlichere Politik dringend notwendig. Sich auf ihn einzulassen, verlangt Mut. Den
wünschen wir Ihnen.
Mit freundlichen Grüßen.
i.A. Christian Herwartz