Teil 5

"Der Vernichtungsvorgang war eine Kombination aus genau berechneter physischer Gewalt und psychologischer Steuerung. Jeder Schritt - von der Entladerampe bis zu den Gaskammern - wurde von den Bewachern mit einer Abfolge praeziser Befehle gelenkt. Massive Gewaltandrohung sollte den Opfern deutlich machen, dass man Widersetzlichkeit und Ungehorsam nicht dulden werde; zugleich wurde ihre Angst vor der neuen und fremdartigen Umgebung durch irrefuehrende Erklaerungen beschwichtigt. Obwohl dieses System nicht frei von Pannen und Stoerungen war, wurde es doch so perfektioniert, dass ein SS-Arzt zu Recht davon sprechen konnte, es funktioniere wie »am laufenden Band«.

Der erste Schritt in diesem genau vorausgeplanten Ablauf war die Benachrichtigung des Lagers vom bevorstehenden Eintreffen eines Transports. Ihr folgte der Befehl an die Wachen und Haeftlinge, die an der Aktion mitwirken sollten, sich bereitzuhalten. Jeder wusste, was geschehen wuerde und war er zu tun hatte. Von dem Augenblick an, in dem die Tueren eines Zuges geoeffnet wurden, hatten seine Insassen bis auf einige Ausnahmen noch etwa zwei Stunden zu leben.

Die eintreffenden Juden waren ihrerseits nicht auf das Todeslager gefasst. Geruechte und Andeutungen, die zu ihnen gedrungen waren, wurden einfach nicht zur Kenntnis genommen. Diese Vorwarnungen wurden nicht ernst genommen, weil sie zu lueckenhaft, zu ungenau, zu unglaubwuerdig waren.

Als im Mai 1942 eine Gruppe von Deportierten von Zolkiewa zum Bahnhof Krasnistaw marschieren musste (von wo sie nach Sobibor bringen sollte), riefen polnische Einwohner der Marschkolonne zu: »Hey Zydzi, idzieci na spalenie"« (He Juden, ihr werdet verbrannt!) Ein Ueberlebender jenes Transports entsinnt sich: »Uns wurde nicht bewusst, was diese Worte bedeuteten. Wir hatten von dem Todeslager in Belzec gehoert, aber wir glaubten es nicht.« Ein welterfahrener wiener Arzt, der sich in einem der Viehwagen befand, erinnert sich, dass ein anderer Deportierter auf eine Bahnstation ein Schild sah und »Auschwitz« ausrief. Der Arzt sah in der Morgendaemmerung die Umrisse eines »ungeheuer grossen Lagers« und hoerte Pfiffe und Befehle. »Wir wussten nicht, was sie bedeuten«, erinnert er sich spaeter. Am Abend erkundigte er sich, wohin ein Freund geschickt worden sei; einer der alten Haeftlinge sagte ihm, dass er ihn »dort« sehen koennte. »Wo?« Eine Hand wies auf den Kamin, doch der neue Haeftling begriff diese Geste immer noch nicht, bis ihm die Wahrheit »geradeheraus« erklaert wurde. Ein anderer, aus den Niederlanden stammender Arzt berichtet:

»Ich weigerte mich..., dem Gedanken der Vergasung der Juden irgendeinen Raum zu lassen, obwohl ich bestimmt nicht sagen kann, dass ich nichts von ihr gehoert haette. Mir waren schon 1942 Geruechte ueber die Vergasung polnischer Juden zu Ohren gekommen... Doch nie hatte jemand gehoert, wann diese Vergasungen stattfanden, und es war definitiv nicht bekannt, dass Menschen unmittelbar nach der Ankunft vergast wurden.«

Die Mehrheit der Deportierten war unfaehig, die Situation zu erkennen, solange sie nicht Details der Vernichtungsoperationen, das Wann und Wie, kannte. Wer etwas wusste oder ahnte, war in aller Regel nicht imstande, nach einem Ausweg zu suchen. Auf einem Warschauer Transport nach Treblinka im August 1942 hoerte ein junger Deportierter die Worte: »Juden, wir sind verloren!« Die alten Maenner im Waggon begangen die Sterbegebete zu sprechen. Ein anderer junger Mann sah beim Verlassen eines Zugs in Treblinka Berge von Kleider und sagte zu seiner Frau, dass dies das Ende sei. Erkenntnis schlug also leichter in Fatalismus als in Flucht- oder Widerstandsversuche um.

Die deutschen Lagerverwalter wiederum waren entschlossen, auch der Gefahr vorzubeugen, dass einzelne Beherzte die Menge zum Widerstand bewegten und riskanter Konfrontation herbeifuehrten. Sie waren deshalb auf einen zuegigen Ablauf bedacht; die Illusionen der Juden mussten zugleich bis zum letztmoeglichen Moment bestaerkt werden. Zu diesem Zweck legten sie einen Verfahrensablauf fest, der bis auf diejenigen Abweichungen, die sich aus den oertlichen Gegebenheiten und Einrichtungen ergaben, in allen Lagern praktisch gleich war.

Die Rampen in Belzec, Sobibor und Treblinka waren zum Entladen laengerer Zuege zu kurz. Die Transporte wurden deshalb zunaechst auf bewachten Gelaende abgestellt und jeweils wenige Waggons zugleich ausgeladen. An der Rampe von Belzec wurden die ankommenden Juden mit Musik und Gesang eines zehn Mann starken Haeftlingssorchesters empfangen. Kulmhof war nur via Landstrasse oder ueber eine Schmalspurbahn erreichbar. Urspruenglich wurden Deportierte aus der unmittelbaren Umgebung mit Lastwagen in das Lager gebracht. Zuege aus den Lodzer Ghetto hielten in Warthbruecken (Kolo), wo die Opfer gelegentlich in der dortigen Sinagoge uebernachten mussten, um dann in Lastwagen nach Kulmhof gebracht zu werden. Spaeter wurde ein umstaendliches Transportverfahren in Kraft gesetzt; man wollte vermeiden, dass die Opfer in Warthbruecken zu sehen waren. Die Deportieren wurden nun auf einen Schmalspurzug verladen und ueber Nacht in einer Fabrik in Zawacki einquartiert. Denn wurden sie mit Lastwagen ins Lager gefahren. In Auschwitz befand sich die Rampe zwischen dem alten Lager und Birkenau. Jene, die in die erste Gaskammer dirigiert wurden, »stroemten« durch das Tor. Als Birkenau betriebsfertig war, liefen lange Kolonnen mehrere hundert Meter durch einen Gang zu einem der Krematorien. Die Stichbahn bis nach Birkenau wurde erst im Fruehjahr 1944 fertig. Auf der neuen Rampe wurden die Zuege in
kurzer Entfernung von den Gaskammern entladen. Die von Lebenden und Toten geraeumten Waggons wurden anschliessend in eine Anlage gebracht, in der sie zur Entseuchung begast wurden. An einem heissen Tag oeffnete ein Ladearbeiter einen Waggon und erschrak zu Tode - ihm fiel eine schwarz angelaufene Leiche entgegen. Der Waggon war voll mit Toten, die das Lagerpersonal auszuladen vergessen hatte.

Nach der Entladung der Zuege erfolgte eine doppelte Selektion. Alte, Kranke und gelegentlich Kinder wurden bereits auf dem Bahnsteig ausgesondert. In Belzec mussten sich die Kranken vor einer Grube auf den Bau legen; sie wurden erschossen. In Sobibor, wo Alte und Kinder auf Lastwagen verladen wurden, versuchten die Wachen ab und zu, die Saeuglinge aus einiger Entfernung auf die Ladeflaeche zu werfen. In Treblinka wurden diejenigen, die nicht mehr gehen konnten, zur Erschiessung zu einer Grube in der Naehe des
Krankenreviers gebracht. Von der ersten Auschwitzer Rampe wurden die Alten und Kranken auf Lastwagen zu den Gaskammern gebracht.

Die Lager selektierten ausserdem kraeftige Personen zur Arbeit. In den Lagern des Generalgouvernements oder in Kulmhof wurden nur sehr wenige Arbeiter gebraucht; unter den zur Arbeit Selektierten befand sich eine Handvoll Frauen. Nach den Kindern gefragt, erklaerte ein ehemaliger Angehoeriger der SS in Treblinka bei seinem Prozess: Kinder in Treblinka zu retten sei unmoeglich. In Auschwitz war der Arbeitskraeftebedarf groesser, und auf dem Bahnsteig von Birkenau suchten SS-Aerzte (Mengele, Koenig, Thilo oder Klein) arbeitsfaehige Juden fuer die Lagerbetriebe aus. Die Selektionen waren nicht gruendlich; die Opfer wurden an dem Arzt vorbeigetrieben, der dann umgehend entschied, indem er in eine von zwei Richtungen wies, »Rechts« hiess Auschwitz und Arbeit; »links« bedeutete Birkenau.

Maenner und Frauen mussten sich getrennt in Baracken entkleiden. Es wurde der Eindruck erweckt, dass die Kleider nach dem Duschen zurueckgegen wuerden. In Sobibor erteilte ein SS-Mann im weissen Kittel genaue Anweisungen, wie die Kleidung zusammengelegt werden muesse; gelegentlich kam er auch auf einen juedischen Staat zu sprechen, den die Deportierten in der Ukraine errichten sollten. Im Kulmhof erzaehlte man den Deportierten, dass sie zur Arbeit nach Deutschland kaemen, und in Belzec hielt ein ausgesuchter SS-Mann aehnliche Reden. In allen drei Lagern des Generalgouvernements gab es besondere Schalter zur Abgabe der Wertsachen. Den Frauen wurde das Haar abgeschoren und ein Haeftlingszug gebildet, Maenner zuerst.

In Sobibor wurden Gruppen von Fuenfzig bis zu Hundert Menschen mit einem SS-Mann an der Spitze und vier oder fuenf Ukrainern am Ende der Kolonne durch den »Schlauch« getrieben. In Belzec schlug man die schreienden Frauen mit Peitschen und Gewehren.

In Treblika ging es allerdings nicht so ordentlich zu. Hoess meinte, in Treblinka haetten die Opfer fast immer gewusst, dass sie in den Tod gingen. Manche erlitten einen Nervenzusammenbruch und lachten und weinten abwechselnd. Zur Beschleunigung des Ablaufs wurde den Frauen in Treblinka weisgemacht, sie muessten sich beeilen, weil sonst das Wasser in den Duschen zu kuehl werde. Dann wurden die Opfer gezwungen, nackt mit erhobenen Haenden durch den Schlauch zu gehen oder zu laufen. Im Winter 1942/43 konnte es aber auch vorkommen, dass die entkleideten Menschen stundenlang barfuss im Freien stehen mussten, bis sie an die Reihe kamen. Dort konnten sie dann die Schreie derer hoeren, die vor ihnen in die Gaskammern gegangen waren.

Das Auschwitzer Verfahren entwickelte sich Schritt um Schritt. Im April 1942 wurden im Krematorium I slowakische Juden anscheinend voll bekleidet vergast. Spaeter wurde Deportierten aus dem nahen Sosnowitz befohlen, sich im Hof auszuziehen. Die Opfer wurden durch den barschen Befehl, sich in Anwesenheit des jeweils anderen Geschlechts zu entkleiden - Maenner vor Frauen und Frauen vor Maennern-, misstrauisch und unruhig. Daraufhin trieben die SS-Leute die nackten Maenner, Frauen und Kinder fluchend in die Gaskammer. In der dritten Phase, ab Mitte 1942, machten Schmaehungen der Hoeflichkeit Platz; Aumeier, Grabner und Hoessler begannen ihre Reden zu halten. Jetzt wurde den Opfern erzaehlt, sie muessten sich nun
ausziehen und duschen, und sie muessten sich beeilen, weil sonst die Suppe kalt wuerde, die es hinterher gaebe. Zur Erhoehung der Sicherheit wurden die Vergasungen zu einer Zeit - vor Tagesanbruch - angesetzt, in der die Lagerinsassen noch schliefen, oder sie fanden in den Abendstunden nach Eintritt des Ausgehverbots statt.

In Birkenau stellten solche Taeuschingsmanoever die Regel dar. Das war nicht immer einfach oder ueberhaupt moeglich, weil mindestens einige der Deportierten das Schild »Auschwitz« von dem durch das Bahngelaende passierenden Zug aus gesehen hatten, manche sahen auch Flammen aus den Kaminen schlagen oder rochen den eigenartigen, ekelhaften Geruch der Krematorien. Die Meisten von ihnen wurden, wie eine Gruppe aus Saloniki, durch die Entkleidungsraeume geschleust und angewiesen, ihre Kleider auf Haken zu haeengen und sich die Nummer zu merken, wobei man ihnen nach der Dusche eine Mahlzeit und nach dem Essen Arbeit versprach. Die nichtsahnenden Juden griffen nach Seife und Handtuch und rannten in die Gaskammern. Nichts durfte diese prekaere Synchronisierung stoeren. Als ein juedischer Haeftling Neuankoemmlingen enthuellte, was sie erwartete, wurde er lebendig verbrannt. Im Fall von Opfern, die aus nahe gelegenen Ghettos Oberschlesiens (Sonowitz und Bedzins) gebracht wurden und die Andeutungen ueber Auschwitz gehoert hatten,war Geschwindigkeit alles. Diesen Leuten sagte man, sie sollten sich»zu ihrem eigenen Besten« rasch entkleiden.

Einmal kam es vor einer Gaskammer in Auschwitz zu einem groesseren Zwischenfall: Ein aus Belsen eingetroffener Transport revoltierte. Der Vorfall ereignete sich, als zwei Drittel der Angekommenen bereits in die Gaskammer geschoben worden war. Der Rest des Transport, der sich noch im Auskleideraum befand, hatte Argwohn geschoepft. Als drei oder vier SS-Leute hereinkamen, um sie zur Eile beim Auskleiden anzutreiben, kam es zum Kampf. Die Stromkabel wurden herausgerissen, die SS-Maenner ueberwaeltigt, einer von ihnen erstochen; allen wurden die Waffen abgenommen. Waehrend im Raum voellige Dunkelheit herrschte, begann zwischen der Wache an der Ausgangstuer und den Gefangenen im Innern eine wilde Schiesserei. Als Hoess auf dem Schauplatz eintraf, liess er die Tueren schliessen. Es verging eine halbe Stunde. Dann betrat Hoess in Begleitung einer Wache den Auskleideraum, leuchtete die Gefangenen mit einer Lampe an und trieb sie in einer Ecke zusammen. Von dort wurden sie einzeln in einen anderen Raum gebracht und erschossen.

Selektionen wurden nicht nur bei der Ankunft auf dem Bahnsteig durchgefuehrt, um arbeitsfaehige Deportierte auszusondern; auch in den Lagern selbst wurden regelmaessig Insassen eliminiert, die zu krank oder zu schwach waren, um noch zu arbeiten. Der uebliche Anlass zur Auswahl von Opfern war ein Namensappell, bei dem alle anwesend waren, ein anderer Ort war das Krankenhaus; mitunter wurden die Selektionen Block um Block durchgefuehrt. Ein ehemaliger Haeftling sagte im Rueckblick auf eine solche Selektion: »Ich versuchte mich so unauffaellig wie moeglich zu machen, nicht aufrecht, aber auch nicht zu schlapp dazustehen; nicht zu eifrig, aber auch nicht zu nachlaessig; nicht zu stolz, doch nicht zu servil; denn ich wusste, dass jene, die anders waren, in Auschwitz starben, waehrend die Anonymen, die Gesichtslosen ueberlebten.« Ein junger
Intellektueller aus Italien, der mit einem geschwollenen Fuss in einer Auschwitzer Krankenstube lag, erfuhr von einen nichtjuedischen polnischen Haeftling: »Du Jude, kaputt. Du schnell Krematorium, fertig.« In Treblinka galten Spuren von Schlaegen ins Gesicht als boeses Fatum:der Verletzte war »gestempelt« und beim naechsten Appell ein Kandidat fuer die Selektion.

In Auschwitz versuchen die Opfer alles Moegliche, um davonzukommen. Sie versuchten sich zu verstecken. Gelegentlich verlegten sie sich auch auf Bitten. Ein neuzehnjaehriges Maedchen bat Hoessler, den Kommandanten des Auschwitzer Frauenlagers, sie zu verschonen. Er erwiderte: »Du hast lange genug gelebt. Komm, Kleine, komm.« Die Leute, die man ausgesucht hatte, wurden nackt unter Peitschenhieben durch Absperrketten von Kapos und Wachen gebracht. Vor Weihnachten 1944 wurden 2000 juedische Frauen in Block 25 gesteckt, der eigentlich nur fuer 500 Haeftlinge gedacht war. Dort blieben sie zehnt Tage eingesperrt. Durch eine Oeffnung in der Tuere schob eine Feuerwache Suppenkessel. Nach zehn Tagen waren 700 tot. Die Uebrigen wurden vergast.

Die eigentliche Vergasung begann mit einem Befehl. In Treblinka war es so, dass ein Deutscher einem ukrainischen Wachmann zurief: »Iwan, Wasser«, das Signal zum Anlassen des Motors. Das Verfahren lief nicht unbedingt schnell ab. Die Opfer standen, ohne sich in den kleinen Kammern bewegen zu koennen, dreissig oder vierzig Minuten lang, bis sie tot waren; nach dem Bericht eines Ueberlebenden in Treblinka wurden die Menschen ab und zu die ganze Nacht ueber in den Kammern gelassen, ohne dass der Motor angeworfen wurde. In Belzec, wo Unterscharfuehrer Hackenholt den Motor bediente, wollte ein deutscher Besucher, Professor Pfannenstiel, wissen, was innen vor sich ging. Erhielt das Ohr an die Wand, lauschte eine Weile und bemerkte dann: »Wie in der Synagoge«. In Kulmhof wurden die Tueren des Wagens von polnischen Arbeitern geschlossen. Einer wurde versehentlich zusammen mit den Juden eingesperrt und tobte verzweifelt, um herauszukommen. Die Deutschen entschieden, dass es unklug waere, ihm die Tuer zu oeffnen.

Wenn die Opfer von Auschwitz nacheinander die Gaskammer betraten, entdeckten sie, dass die vermeintlichen Duschen nicht funktionierten. Draussen wurde der Hauptschalter betaetigt, um die Beleuchtung abzustellen, und ein Rot-Kreuz-Wagen mit dem Zyklon fuhr vor. Ein SS-Mann, der eine Gasmaske trug, die mit einem Spezialfilter versehen war, hob den Glasverschluss ueber ein vergitterten Schacht ab und schuettelte einen Zyklon-Kanister nach dem andern in die Gaskammer. Obwohl die toedliche Dosis ein Milligramm pro Kilogramm Koerpergewicht betrug und sich die Wirkung in der Regel schnell einstellte, konnte Feuchtigkeit die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Gases verringern. Untersturmfuehrer Grabner, der politische Lageroffizier, stand mit der Stoppuhr in der Hand bereit. Wenn sich die ersten Kugeln auf den Boden der Kammer verfluechtigten, begannen die Opfer zu schreien. Auf der Flucht vor dem aufsteigenden Gas stiessen die Staerkeren die Schwaechern nieder und stellten sich auf die Liegenden, um gasfreie Luftschichten zu erreichen und so ihr Leben zu verlaengern. Der Todeskampf dauerte etwa zwei Minuten; dann hoerte das Schreien auf, und die Sterbenden fielen uebereinander. Innerhalb von fuenfzehn (gelegentlich auch fuenf) Minuten waren alle in der Gaskammer tot. Nun liess man das Gas entweichen, und nach etwa einer halben Stunde wurde die Tuer geoeffnet. Die Leichen fanden sich turmartig aufgehaeuft, manche in sitzender oder halbsitzender Position, Kinder und aeltere Menschen zuunterst. Wo das Gas eingeworfen war, befand sich ein freier Raum, der sich gebildet hatte, als die Opfer zurueckwichen; gegen die Tuer gepresst waren Leichen von
Menschen, die in hoechster Angst auszubrechen versucht hatten. Die Leichen waren rosafarben und wiesen gruene Flecken auf. Manche bluteten aus der Nase. Einige der Leichen waren mit Kot und Urin bedeckt, bei manchem schwangeren Frauen hatte die Geburt eingesetzt. Die juedischen Sonderkommandos, die Gasmasken trugen, zerrten die Leichen in der Naehe der Tuer heraus, um sich einen Weg freizumachen; dann spritzten sie die Leichen ab, wobei sie zugleich das restliche, zwischen ihnen verbliebene Giftgas wegwuschen. Dann mussten die Sonderkommandos die Leichen auseinanderzerren.

In allen Lagern wurden die Koerperhoehlen nach versteckten Wertsachen durchsucht und den Toten die Goldzaehne gezogen. Im Krematorium II (neue Nummerierung) in Birkenau wurden die Plomben und Goldzaehne, die manchmal am Kiefer befestigt waren, mit Salzsaeure gereinigt, um im Hauptlager in Barren umgeschmolzen zu werden. In Auschwitz wurde den Frauen das Haar abgeschnitten, nachdem sie tot waren. Es wurde vor dem Einpacken in einer Salmiakloesung gewaschen. Dann konnten die Leichen verbrannt werden."

  • Raul Hilberg, Vernichtung der europaeischen Juden,S.1034-1043)