Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie

Der Begriff "Euthanasie" wurde, der antiken Philosophie entlehnt, zu Beginn des 17.Jahrhunderts von Francis Bacon in die medizinische Literatur eingeführt. Er bezeichnete denjenigen Bereich der ärztlichen Pflichtenlehre, der sich auf den Umgang mit Sterbenden bezog. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war man sich einig, daß die _euthanasia medica_ auf die Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung zu beschränken sei - die Tötung von Sterbenden wurde in der medizinischen Literatur einhellig abgelehnt. Erst im Zuge einer kontroversen Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und "Vernichtung lebensunwerten Lebens", die sich von den 1890er Jahren bis in die 1930er Jahre hinzog, entwickelte sich "Euthanasie" zum Synonym für die schmerzlose Tötung Sterbender, unheilbar (psychisch) Kranker und (geistig) Behinderter. Im Sinne von "Vernichtung lebensunwerten Lebens" meinte "Euthanasie" die Tötung schwacher und kranker, körperlich mißgebildeter und geistig behinderter Neugeborener, verstanden als Maßnahme zur Erbpflege, die Tötung von unheilbar Kranken und Behinderten aus Mitleid sowie die Tötung der in psychiatrischen Institutionen untergebrachten Langzeitpatienten, die als behandlungsunfähig galten, aus Gründen der Kostenersparnis. Diese drei Bedeutungsebenen spiegelten lose miteinander verknüpfte ideengeschichtliche Entwicklungsstränge wider:
1. Der Gedanke, Neugeborene, die an erblichen Krankheiten oder Behinderungen litten, unmittelbar nach der Geburt zu töten, klang bereits im naturalistischen Monismus an, einer auf dem Darwinismus aufgebauten Natur- und Moralphilosophie, die in den 1860er Jahren von Ernst Haeckel begründet wurde. Auf Grund eines spezifischen Desinteresses an der eugenischen Problematik, das auf der Fortschrittsgläubigkeit des frühen Sozialdarwinismus beruhte, wurde dieser Gedanke jedoch zunächst nicht weiterverfolgt. Erst mit der Konstituierung der Rassenhygiene, deren Grundzüge in den 1890er Jahren von Alfred Ploetz entworfen wurden, nahm die eugenisch fundierte Euthanasieidee festere Gestalt an. In der rassenhygienischen Programmatik kam dem Konzept der Asylierung, das die Vorstellungen von einer "ausmerzenden Erbpflege" vor dem Ersten Weltkrieg prägte, bzw. dem Konzept der Sterilisierung, das nach dem Ersten Weltkrieg in den Mittelpunkt der negativen Eugenik rückte, ungleich größeres Gewicht zu als dem Euthanasiepostulat. Absonderung und Unfruchtbarmachung schienen - auf lange Sicht gesehen - die "Ausmerze minderwertigen Erbgutes" ebenso zuverlässig zu gewährleisten wie die "erbpflegerisch angezeigte Kindestötung", zumal sie leichter in die Wirklichkeit umgesetzt werden konnten. Nur Außenseiter der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die sich auf dem Boden des rassenhygienischen Paradigmas zusammenfand, plädierten öffentlich für die Einführung der Kindestötung unter erbpflegerischen Gesichtspunkten.
2. Auch die Forderung, unheilbar Kranke aus Mitleid zu töten, von Haeckel bereits im Jahre 1904 erhoben, basierte auf der Moralphilosophie des naturalistischen Monismus. Von daher war es kein Zufall, daß gerade im Publikationsorgan des Deutschen Monistenbundes, der Zeitschrift "Monistisches Jahrhundert", in den Jahren von 1913 bis 1917 ein von Roland Gerkan unterbreiteter Gesetzesvorschlag zur Freigabe der Sterbehilfe erörtert wurde. Dabei waren die Grenzen zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" fließend. Zum einen sollten nicht nur Sterbende im Stadium der Agonie getötet werden, sondern auch unheilbar Kranke und Behinderte deren Leiden keineswegs zum Tode führen mußte. Zum anderen wurde das Einverständnis der Betroffenen - etwa bei Geisteskranken - nicht unbedingt vorausgesetzt. Schließlich machte man bereits die Belastung der Gesamtgesellschaft durch Sieche, Kranke und Behinderte geltend, um die Tötung zu rechtfertigen.
3. Die Forderung nach einer Freigabe der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" wurde im Jahre 1920 in einer Schrift erhoben, die von dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche verfaßt worden war. Sie schlugen vor, etwa 3000 bis 4000 "geistig Tote" unter den Insassen der deutschen Heil- und Pflegeanstalten zu töten, da die volkswirtschaftliche Belastung, die mit der Verwahrung dieser "Ballastexistenzen" verbunden war, untragbar sei. Die Schrift Bindings und Hoches, die in der medizinischen, juristischen und theologischen Diskussion ein lebhaftes, wenngleich zwiespältiges Echo hervorrief, war durch die Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt. Zum einen stand sie unter dem Eindruck der ungeheuren Verluste an Menschenleben im Ersten Weltkrieg, die zu einer Entwertung von Menschenrecht und Menschenwürde geführt hatten. Zum anderen schlug sich in der ökonomistischen Argumentation die wirtschaftliche Notlage Deutschlands in der unmittelbaren Nachkriegszeit nieder. Das Zeitgeschehen hat jedoch nur zu Tage treten lassen, was sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg angebahnt hatte. Insbesondere das Denken in "Lebenswerten" wies daraufhin, daß die in den 1920er Jahren geführte Euthanasiediskussion unter dem Einfluß der von Heinrich Rickert beschriebenen "biologistischen Modephilosophien" stand, wenngleich sie die biologistische Terminologie sparsam gebrauchte.
Die Matrix der Euthanasieidee war das rassenhygienische Paradigma. Die Rassenhygiene, das deutsche Gegenstück zu der bereits in den 1860er Jahren im angelsächsischen Raum entstandenen Eugenik, bildete sich in den 1890er Jahren heraus, als sich in der sozialdarwinistischen Doktrin das Schwergewicht vom Evolutions- zum Selektionsprinzip verschob. Zum Zweck der Analyse kann die Struktur des rassenhygienischen Paradigmas in vier Leitlinien aufgeschlüsselt werden:
1. Die Rassenhygiene stützte sich auf das fur die Theoriebildung des Sozialdarwinismus grundlegende monistische Axiom, demzufolge das Gesellschaftsgeschehen auf Naturgesetzen - den durch die darwinistische Evolutions- und Selektionstheorie aufgezeigten Entwicklungsgesetzen - beruhte. Diese Prämisse ging auf den Zirkelschluß von der Gesellschaft auf die Natur, von der Natur auf die Gesellschaft zurück, den Darwin begonnen hatte, indem er die malthusianische Bevölkerungstheorie in das Medium des Biologischen transponierte. Folgerichtig verstand sich der Sozialdarwinismus als eine Naturlehre der Gesellschaft. Während der evolutionistische Sozialdarwinismus, der durch einen biologischen Determinismus gekennzeichnet war, voraussetzte, daß die Gesellschaftsentwicklung naturgesetzlich vorgezeichnet war, zog das rassenhygienische Paradigma die Möglichkeit in Betracht, daß der gesellschaftliche Wandel von den durch die natürlichen Entwicklungsgesetze abgesteckten Bahnen abweichen konnte.
2. Die Rassenhygiene ging von dem für den selektionistischen Sozialdarwinismus charakteristischen Primat des Selektionsprinzips aus, der mit dem Verlust der für den evolutionistischen Sozialdarwinismus typischen teleologischen Dimension des Evolutionstheorems verbunden war, die sich - streng genommen - nicht aus der darwinistischen Biologie ableiten ließ. Auf der Grundlage eines hereditären Determinismus, der sich im Gefolge der Keimplasmatheorie August Weismanns in der Vererbungswissenschaft durchgesetzt hatte, stellten die Rassenhygieniker die These auf, daß der Fortschritt der humanen Phylogenese davon abhängig war, daß das Selektionsprinzip in der Gesellschaft zum Tragen kam.
3. Unter diesem Blickwinkel erschien den Rassenhygienikern der Prozeß der Zivilisation als eine "Kette von Pyrrhussiegen". Sie formulierten biologistische Degenerationstheorien, die sich teilweise mit dem in der Psychiatrie geprägten Begriff der "Degenerescence" verbanden. Gleichzeitig hoben die Rassenhygieniker hervor, daß in der humanen Phylogenese ein progressus ad infinitum, also die Züchtung eines "Übermenschen", möglich sei. Aus der Dichotomie von Degenerationstheorie und Züchtungsutopie empfing die Rassenhygiene dynamisierende Impulse. Dem rassenhygienischen Paradigma war eine Radikalisierungstendenz immanent: Bei der Realisierung der rassenhygienischen Programmatik konnten die "Züchtungsziele" - bei gleichzeitiger Perhorreszierung der "Entartungsgefahr" - immer höher geschraubt werden, was zwangsläufig zu einer Verschärfung der gesellschaftlichen Auslese und "Ausmerze" führen mußte.
4. Die Rassenhygiene entwickelte auf der Grundlage bioorganismischer Sozialtheorien, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunden us in der Soziologie reüssierten, einen dezidierten Antiindividualismus, der den Wert des Menschenlebens gegenüber der zur höheren Seinsstufe erklärten "Volksgemeinschaft" relativierte. Diese Tendenz wurde dadurch verstärkt, daß die Darwinsche Evolutionstheorie die Grenzen zwischen regnum animale und regnum humanum aufgeweicht hatte, so daß - neben den farbigen Menschenrassen - der Typus des "degenere" zum "Untermenschen" herabgewürdigt werden konnte.
Trotz einer gewissen Eigengesetzlichkeit der Wissenschaftsentwicklung darf nicht übersehen werden, daß der Rassenhygiene im sozioökonomischen, -politischen und -kulturellen Kontext ideologische Funktionen zuwuchsen, wie überhaupt der Transformationsprozeß, dem die sozialdarwinistische Doktrin unterworfen war, den gesellschaftlichen Wandel auf der ideologischen Ebene widerspiegelte. Der evolutionistische Sozialdarwinismus gab, eingekleidet in biologistische Terminologie, die Doktrinen des Manchesterliberalismus wieder. Er deutete den Kampf ums Dasein im Sinne des laissez-faire-Prinzips, dem zufolge in der Gesellschaft - analog zur Natur - durch das Zusammenspiel gegenläufiger Kräfte eine prästabilierte Harmonie entstand, in der die individuellen Partikularinteressen mit den gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen zum Ausgleich kommen sollten. Der selektionistische Sozialdarwinismus hingegen bewährte sich - jenseits liberaler Doktrinen - als adäquate Legitimationsideologie des Organisierten Kapitalismus. Einerseits gab er militaristischen und imperialistischen Ambitionen, nationalem Sendungsbewußtsein und rassistischem UberlegenheitsgeRühl, antisemitischen und antipolnischen Ressentiments, die sich zur Ablenkung der Kapitalismuskritik aus konservativer Perspektive eigneten, eine scheinbar wissenschaftliche Legitimationsbasis. Andrerseits rechtSertigte er sowohl politische Polarisations- als auch ökonomische Konzentrationsprozesse, wobei er eine dezidiert antisozialistische Note entwickelte. Der Sozialismus wurde als das von vornherein aussichtslose Aufbegehren des im Daseinskampf unterlegenen Bodensatzes der Gesellschaft diffamiert.
Die beiden grundlegenden Funktionen des selektionistischen Sozialdarwinismus - Ausrichtung von systemdestabilisierendem Protestpotential in den bürgerlichen Besitz- und Erwerbsklassen und Biologisierung eines militanten Antisozialismus - waren auch dem rassenhygienischen Paradigma inhärent:
1. Anknüpfungspunkte zwischen dem rassenhygienischen Paradigma und der konservativen Kapitalismuskritik ergaben sich aus dem Umstand, daß die im Sinne der Rassenhygiene Lebensuntüchtigen - Arme, Alte, Kranke, Behinderte, Geisteskranke - durchaus als Nutznießer des säkularen sozioökonomischen Transformationsprozesses betrachtet werden konnten, kam es doch gerade in der Phase der Hochindustrialisierung im Deutschen Kaiserreich zu einem geballten Medikalisierungsschub. Kranke und Behinderte, die in wachsender Zahl in Krankenhäusern und Heilanstalten untergebracht wurden, fungierten als Sündenböcke, auf die man die radikale Medizinkritik ablenken konnte.
2. Eine antisozialistische Attitüde erhielt das rassenhygienische Paradigma dadurch, daß es den AufLau der medizinischen Infrastruktur, z. B. die Sozialversicherungsgesetzgebung, die auch als Errungenschaft der Arbeiterbewegung angesehen werden konnte, einer Fundamentalkritik unterzog. Die Bekämpfung der Tuberkulose, einer typischen "Proletarierkrankheit", konnte mit Hilfe rassenhygienischer Argumente als staatssozialistischer Irrweg denunziert werden.
Trotz der Medizinkritik der Rassenhygieniker fand das rassenhygienische Paradigma in den erstenJahrzehnten des 20.Jahrhunderts in der Medizin zunehmend Beachtung. Dieser Widerspruch läßt sich nur auflösen, wenn man von Prädispositionen zumindest in einzelnen Bereichen der medizinischen Theoriebildung ausgeht, die der Osmose des rassenhygienischen Paradigmas förderlich waren. Die Affinitäten zwischen medizinischen Krankheitskonzepten und rassenhygienischen Ideen lassen sich idealtypisch zu zwei Komplexen zusammenfassen:
1. Die Anlage-Umwelt-Problematik bot Ansatzpunkte für die Penetration des für das rassenhygienische Paradigma unabdingbaren hereditären Determinismus in die Ätiologie. Sogar eine medizinische Teildisziplin wie die Sozialhygiene, die sich zur Aufgabe gesetzt hatte, den Blick auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Krankheit zu lenken, öffnete sich der Rassenhygiene, weil sie die Bedeutung des Erbfaktors in Hinblick auf die Pathogenese überschätzte. Besonders folgenschwer war der genetische Determinismus in der Psychiatrie.
2. Das theoretische Konstrukt der "Volksgesundheit" implizierte eine Umorientierung von der kurativen zur präventiven Medizin. Indem der "Volkskörper" zum Objekt der Therapeutik erklärt wurde, kehrte sich das individuelle Recht auf Gesundheit um in eine kollektive Pflicht zur Gesundheit. Da "Volksgemeinschaft" als "Leistungsgemeinschaft" definiert wurde, kam es zusehends zu einer Gleichsetzung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit, Krankheit und Leistungsminderung. Diese Tendenzen, die als Hauptmerkmale der Medizin im Nationalsozialismus angesehen werden, zeichneten sich lange vor Anbruch des "Dritten Reiches" ab.
Gleichzeitig mit dem Eindringen rassenhygienischer Ideen in Wissenschaftsfelder, die - wie die Biologie, Anthropologie oder Medizin - im Rezeptionsbereich des Darwinismus lagen, vollzog sich die politische Implementierung rassenhygienischer Programmpunkte. Die Rassenhygieniker, die sich in der (Deutschen) Gesellschaft fur Rassenhygiene zusammenschlossen, entfalteten eine rege Außentätigkeit, die jedoch weniger darauf abzielte, die öffentliche Meinung zu gewinnen, als vielmehr darauf angelegt war, gezielt Einfluß auf die Entscheidungsträger im Bereich des Gesundheitswesens, der Wohlfahrtspflege und der Sozialpolitik auszuüben. In der nach dem Ersten Weltkrieg von den Rassenhygienikern initiierten Kampagne zur Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung ging dieses Kalkül auf. Der Initiative der Rassenhygieniker war es zu verdanken, daß der Ausschuß für Bevölkerungswesen und Eugenik des PreuBischen Landesgesundheitsrates im Jahre 1932 den Entwurf zu einem Sterili sierungsgesetz vorlegte, der zur Grundlage des einJahr später verabschiedeten GzVeN wurde. Daß dieser Gesetzentwurf die Billigung bedeutender sozialpolitischer Interessengruppen, ärztlicher Berufsverbände und sogar der kirchlichen Träger der Wohlfahrtspflege fand, zeigt, wie weit die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung mittlerweile akzeptiert wurde.
Bis zum Beginn des "Dritten Reiches" verlief der Prozeß der politischen Implementierung des rassenhygienischen Programms, in dessen Mittelpunkt das Sterilisierungspostulat stand, in Deutschland in denselben Bahnen wie in anderen Staaten, in denen eugenische Organisationen beratend auf die Sozialpolitik einwirkten. Mit der "Machtergreifung" setzte jedoch ein Radikalisierungsprozeß ein, der einerseits dazu fuhrte, daß die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung im Deutschen Reich ein beispielloses Ausmaß erreichte, andrerseits den Übergang von der Verhütung zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" bewirkte. In diesem Prozcß kamen dem für das nationalsozialistische Regime charakteristischen Ineinandergreifen von charismatischer Legitimationsbasis und polykratischer Herrschaftsstruktur katalytische Funktionen zu.
1. Seinem Legitimitätsanspruch nach kann der Nationalsozialismus dem Weberschen Idealtyp der charismatischen Herrschaft zugeordnet werden. Eine Vorbedingung charismatischer Herrschaft ist das Vorhandensein einer sozioökonomischen, -politischen oder -kulturellen Krisensituation. Im Bewußtsein der Trägergruppen des Nationalsozialismus - zu denen auch ein Großteil der Ärzteschaft zu rechnen ist - verdichteten sich in der Weimarer Republik die Anzeichen eines wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verfalls zu einer chronischen Krisenmentalität, die der nationalsozialistischen Propaganda als Resonanzboden diente. Dem rassenhygienischen Paradigma, das freilich zu den peripheren Elementen der nationalsozialistischen Ideologie gehörte, fiel die Aufgabe zu, charismatische Herrschaft im Bereich des Gesundheits- und Fürsorgewesens zu begründen. Da das Endziel charismatischer Herrschaft im Unendlichen liegt, mußte der Ausnahmezustand in Permanenz aufrechterhalten werden, indem die verwirklichten Teillösungen stets auf neue Problemzonen und Nahziele verwiesen. Die Amalgamierung konservativer und totalitärer Kräfte im neu etablierten Machtkartell, das sich in der "Regierung der nationalen Konzentration" zusammenfand, wirkte, was die Auswahl der zur Durchführung zugelassenen Weltanschauungsgehalte anging, wie ein Filter, der allein die negativen Ideologieelemente durchließ. Sie richteten sich ohnehin gegen gesellschaftliche Außenseiter, deren Verfolgung auch im Sinne konservativer Ordnungspolitik war. Indem nur die negativen Ideologeme realisiert wurden war die zur Konstituierung charismatischer Herrschaft notwendige Bewegung nur noch in einer allmählichen Verschärfung der Ausgrenzung - bis hin zur "Endlösung" - denkbar.
Dieses Interpretationsmodell läßt die Möglichkeit offen, daß die "Euthanasieaktion~ nicht von Anfang an geplant war, sondern sich im Zuge der "Machtergreifung" im Gesundheitswesen aus einer Vielzahl von Maßnahmen zur gesellschaftlichen "Ausmerze' herausformte. Die Sterilisierungsgesetzgebung, die Asylierung der "Asozialen", die Mittelkürzungen im Anstaltswesen, die Verdrängung der kirchlichen Träger aus der Anstaltspflege, die rassenhygienische Propaganda, die Einbeziehung der Rassenhygiene in die Aus- und Weiterbildung der Ärzteschaft, die "erbbiologische Bestandsaufnahme" - dies alles fügte sich zu einem umfassenden Programm negativer Eugenik zusammen, in dem schließlich auch die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" ihren Platz fand.
2. Die Radikalisierung des rassenhygienischen Programms, die, dem rassenhygienischen Paradigma inhärent, durch die charismatische Legitimationsbasis des Nationalsozialismus vorangetrieben wurde, verlief, da es keine zentrale Steuerungsinstanz gab, nicht kontinuierlich, sondern in Schüben, die durch die Konkurrenz relativ autonomer Machtzentren, die für die nationalsozialistische Polykratie typisch waren, ausgelöst wurden. Die Genese der "Euthanasie" wies Stufen auf, wobei der Übergang von einer Ebene zur anderen dadurch bedingt wurde, daß entweder ein Machtzentrum dem anderen die Gewaltherrschaft über die als erbkrank ausgegrenzten Randgruppen streitig machte oder aber in Zuständigkeitsbereiche eindrang, die bis dabin von keinem anderen Herrschaftsträger besetzt worden waren, um durch den Vorstoß in ein Machtvakuum die eigene Einflußsphäre auszudehnen. Dabei bediente man sich regelmäßig des Mittels der Führervollmacht. Auf diese Weise driftete das rassenhygienische Programm nach und nach in einen rechtlosen Hohlraum innerhalb des Rechtsstaates ab, was den Machthabern einen Zwang zur Geheimhaltung auferlegte. Die Kompetenzverlagerungen, die den rassenhygienischen Radikalisierungsprozeß begleiteten, spiegelten eine Verschiebung der Gewichte innerhalb des MachtgeBuges des "Dritten Reiches" - weg von der normativen Bürokratie des Regierungsapparates hin zu den außernormativen Exekutivgewalten - wider. Die "Euthanasie" fiel deshalb, um die Begrifflichkeit Ernst Fraenkels aufzugreifen, in den Bereich des Maßnahmenstaates, der den Normenstaat innerlich aushöhlte.
In der (Vor-)Geschichte der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" in den Jahren von 1933 bis 1945 lassen sich fünf Abschnitte voneinander abgrenzen, wobei die Zäsuren durch die Umverteilung der Zuständigkeiten und Befugnisse auf Grund interner Kompetenzkonflikte markiert werden:
1. Die Initiative zum Erlaß des GzVeN ging von der Gesundheitsabteilung des RMdl unter Ministerialdirektor Arthur Gütt aus, deren Machtbereich im Zuge der "Gleichschaltung" des Gesundheitswesens, insbesondere durch die Einrichtung der staatlichen Gesundheitsämter, erheblich ausgeweitet wurde. Unter Mithilfe des Sachverständigenbeirats fur Bevölkerungs- und Rassenpolitik wurde der Gesetzentwurfbereits Anfang Juli 1933 fertiggestellt. Hitler, der sich schon in "Mein Kampf" nachdrücklich fur die Legalisierung der rassenhygienisch indizierten Sterilisierung ausgesprochen hatte, setzte die Verabschiedung des Gesetzes gegen die Bedenken des Vizekanzlers v. Papen in der Kabinettssitzung vom 14.Juli 1933 durch. Auf der Grundlage dieses Gesetzeswerks wurden in denJahren von 1934 bis 1945 etwa 400000 Menschen unfruchtbar gemacht, wobei etwa 5000 bis 6000 Frauen und 600 Männer zu Tode kamen.
2. Die Einbeziehung der Abtreibung aus eugenischer Indikation in die nationalsozialistische Sterilisierungsgesetzgebung wurde - gegen den Willen der Gesundheitsabteilung des RMdl - von Reichsärzteführer Wagner dem die parteiamtliche Gesundheitshührung unterstand, durchgesetzt. Wagner, ursprünglich Führer des NSDÄB, hatte im Zuge der "Machtergreifung" im Gesundheitswesen u. a. die Leitung der gleichgeschalteten ärztlichen Spitzenverbände, der KVD, der RÄK und des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP an sich gezogen. Zudem verfügte er über das Vertrauen Hitlers, von dem er auf dem Reichsparteitag 1934 eine Führerermächtigung erhielt, den ihm nachgeordneten Dienststellen die Abtreibung aus eugenischer Indikation freizugeben. Das Änderungsgesetz zum GzVeN vom 26.Juni 1935, das die Grundlage zu etwa 30000 Schwangerschaftsabbrüchen bildete, stellte eine Kompromißformel zwischen der staatlichen und der parteiamtlichen Gesundheitshuhrung dar.
3. Einen Vorstoß in Richtung auf die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" unternahm Wagner auf dem Reichsparteitag 1935. Hitler willigte grundsätzlich ein, ordnete aber an, den Ausbruch des Krieges abzuwarten. Wagner ließ die Euthanasieproblematik von dem um dieJahreswende 1937/ 1938 gegründeten Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erbund anlagebedingter schwerer Leiden weiter beraten. Dieses Gremium entstand im Zusammenhang mit der Debatte um das Dritte Änderungsgesetz zum GzVeN als Ersatz für ein Reichserbgesundheitsgericht. Der Ausschuß dessen bürokratischer Apparat der Unterabteilung Erb- und Rassenpflege der Gesundheitsabteilung des RMdl angegliedert war und das politisch durch die Kanzlei des Führers abgestützt wurde, bestand vorwiegend aus Psychiatern, die sich in den 1930erJahren bei der "erbbiologischen Bestandsaufnahme", der statistischen Basis für die spätere Vernichtungspolitik, einen Namen gemacht hatten. Nach dem Tode Wagners gelang es dem Reichsausschuß, sich der Kontrolle durch den Reichsgesundheitshührer Leonardo Conti, der im Jahre 1939 sowohl die staatliche als auch die parteiamtliche "Gesundheitsführung" übernahm, zu entziehen. Um dieJahreswende 1938/1939 erwirkte der Reichsausschuß eine Führervollmacht zur Durchfuhrung der "Kindereuthanasie", bei der in den Jahren von 1939 bis 1945 in etwa 30 "Kinderfachabteilungen", die Heil- und Pflegeanstalten angegliedert waren mindestens 5000 behinderte (Klein-)Kinder durch überdosierte Medikamentengaben oder Nahrungsmittelentzug umgebracht wurden.
4. Die strategische Clique, die, hervorgegangen aus dem Reichsausschuß, die "Kindereutbanasie" an sich gezogen hatte, bewarb sich im Sommer 1939 - in Konkurrenz zu Reichsgesundheitsführer Conti - um den Auftrag zur "Erwachseneneuthanasie" Aus den informellen Strukturen, die sich im Vorfeld der Vernichtung ausgebildet hatten, entwickelte sich eine Euthanasiezentraldienststelle, die sich hinter vier Tarnorganisationen verbarg: der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG), der Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft (GEKRAT), der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege und - seit April 1941 - der Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten. Die Euthanasiezentrale umfaßte einen Mitarbeiterstab von 300 bis 400 Personen, davon mindestens 60 festangestellte Ärzte. Die Verbindung zu den Anstalten wurde - teilweise unter Einschaltung der Provinzial- und Länderbehörden - durch den für das Anstaltswesen zuständigen Ministerialdirektor im RMdl, Herbert Linden, hergestellt. Die politische Kompetenz lag bei der Kanzlei des Führers, wobei Querverbindungen zum SS/SD/RSHA-Komplex bestanden. ZwischenJanuar 1940 und August 1941 wurden im Zuge der "Erwachseneneuthanasie", die unter dem Kürzel "Aktion T4" vonstatten ging, in sechs mit Gaskammern ausgerüsteten Tötungsanstalten - Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar - insgesamt über 70000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten ermordet, darunter die etwa 1000 Anstaltsinsassen jüdischer Herkunft. Im Zeitraum vom April 1941 bis zum Dezember 1944 - also weit über den Abbruch der "Aktion T4" hinaus - wurden in den Gaskammern der Tötungsanstalten Sonnenstein, Bernburg und Hartheim unter der Tarnbezeichnung "Sonderbehandlung 14f13" mindestens 20000 KZ-Häftlinge, die - größtenteils von T4-Gutachtern - als arbeitsunfähig oder "gemeinschaftsfremd" ausgesondert worden waren, umgebracht.
5. Nach dem von Hitler verfugten Stopp der "Aktion T4", der einerseits auf die zunehmende Beunruhigung der Bevölkerung, die durch den öffentlichen Protest des Münsteraner Bischofs v. Galen verstärkt wurde, zurückzufuhren war, andrerseits aber auch auf Verschiebungen im Herrschaftsgefüge des "Dritten Reiches" beruhte, wurde der Euthanasieapparat teilweise an den SS/SD/RSHA-Komplex abgetreten, um die "Endlösung der Judenfrage" in Angriff zu nehmen, teilweise blieb er erhalten, um die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" - nunmehr dezentral organisiert - fortzuführen. Da die Kanzlei des Führers mittlerweile weitgehend entmachtet worden war, suchte die Euthanasiezentraldienststelle Rückhalt bei den Kriegsbevollmächtigten im Sanitäts- und Gesundheitswesen, namentlich bei Herbert Linden, der im Oktober 1941 zum Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten bestellt wurde, und bei Hitlers Begleitarzt Karl Brandt, der, nachdem er als Führerbevollmächtigter die Oberaufsicht über die "Kinder-" und "Erwachseneneuthanasie" ausgeübt hatte, im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zum Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen aufstieg.
In den Zeitraum zwischen November 1941 und Juni 1943 fiel die Phase der "wilden Euthanasie", bei der in etwa 30 Heil- und Pflegeanstalten innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, aber auch in den besetzten Gebieten Polens psychiatrische Patienten - nunmehr durch überdosierte Medikamentengaben und Nahrungsmittelentzug - im normalen Anstaltsbetrieb getötet wurden. Gleichzeitig arbeitete die Euthanasiezentrale an der lockenlosen Erfassung aller Anstaltsinsassen und versuchte, die Erfassung zur Vernichtung auf Arbeitshausinsassen, Fursorgepfleglinge und Altersheimbewohner auszudehnen. Im Zusammenhang mit der Verschärfung des Luftkrieges über Deutschland erfolgte um dieJahresmitte 1943 eine Reinstitutionalisierung der "Euthanasieaktion", die als "Aktion Brandt" bezeichnet wurde. Dabei diente die Räumung von Heil- und Pflegeanstalten, die als Ausweichkrankenhäuser genutzt wurden, als Vorwand fur die Wiederaufnahme der Sammeltransporte in die Zentren der "wilden Euthanasie". Nach dem August 1941 kamen vorsichtigen Schätzungen zufolge nochmals mindestens 30 000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches im Rahmen des Euthanasieprogramms ums Leben, darunter eine große Zahl von überwiegend polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern, die beim Einsatz in der deutschen Kriegswirtschaft psychisch erkrankt waren oder sich Tuberkulose zugezogen hatten.
Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", der Hunderttausende von Menschenleben zum Opfer fielen, bildete die Vorstufe zur "Endlösung der Judenfrage". Erste Zusammenhänge lassen sich bis zum "Volkstumskampf" im besetzten Polen zurückverfolgen. Während die Euthanasiezentrale den ersten Massenmord an Juden auf dem Reichsgebiet einleitete, indem sie eine zunehmende Zahl von Juden deutscher Staatsangehörigkeit - Anstaltsinsassen und KZ-Häftlinge - in das Euthanasieprogramm einbezog, führten die Einsatzgruppen der Sipo und des SD, das Sonderkommando Lange und SS-Einheiten wie der Wachsturm Eimann, deren Hauptaufgabe in der "Evakuierung" von Polen und Juden bestand, stellvertretend für die T4-Zentraldienststelle Massenhinrichtungen von Anstaltsinsassen aus Pommern, Danzig-Westpreußen, Ostpreußen und dem Reichsgau Posen/Wartheland durch. Vermittelt durch das KTI des RSHA übernahm namentlich das Sonderkommando Lange die Tötungstechnologie der "Euthanasieaktion" in Form fahrbarer Gaskammern. Die nach dem Vorbild der Vergasungsanlagen in den Tötungsanstalten konstruierten Gaswagen kamen auch beim Massenmord an den Patienten psychiatrischer Krankenhäuser in der Sowjetunion, begangen von den Einsatzgruppen der Sipo und des SD, zum Einsatz. Durch die Ausdehnung der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" auf die besetzten Ostgebiete - während des Zweiten Weltkrieges wurden in Polen und der Sowjetunion schätzungsweise je 10000 Anstaltsinsassen ermordet - wurde die "Euthanasieaktion" mit der sich anbahnenden "Endlösung der Judenfrage" verkoppelt, denn die Krankentötung stellte nur einen Ausschnitt der Massenmorde dar, die von den Sonderkommandos und Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion verübt wurden und denen über eine Million Juden zum Opfer fielen.
Auch der Beginn der Judenvernichtung in Polen, die gegen Ende 1941 begann, war eng mit der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" verschränkt. Das erste Vernichtungslager - Chelmno (Kulmbof) im Wartheland - wurde vom Sonderkommando Lange eingerichtet und betrieben, das bereits in den Jahren 1939/1940 - in Zusammenarbeit mit der Euthanasiezentrale - Krankentötungen mit Giftgas in Danzig-Westpreußen, im Wartheland und in Ostpreußen durchgehuhrt hatte. Die Vernichtungslager der "Aktion Reinhard" - dahinter verbarg sich die Judenvernichtung im Generalgouvernement -, Belzec, Treblinka und Sobibor, wurden fast ausschließlich von Personal der Euthanasiezentrale erbaut, eingerichtet, betrieben und geleitet. Mit dem Personal wurden das Organisationsschema und die Tötungstechnologie übernommen.
Die konzeptionelle Komplementarität, der institutionelle Konnex, die personelle Kontinuität und der Transfer der Tötungstechnologie stellten den Zusammenhang zwischen der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" und den ersten Stationen des Holocaust her. Geht man - im Anschluß an die Thesen von Martin Broszat und Hans Mommsen - davon aus, daß der Holocaust nicht mit einem - schriftlichen oder mündlichen - Führerbefehl angeordnet wurde, sondern sich aus einer Fülle von Einzelmaßnahmen herausformte, die im Zusammenhang mit der Überfüllung der Ghettos in Polen und der Sowjetunion infolge des verfehlten Deportationsprogramms standen, kam der "Euthanasieaktion" am Umschlagspunkt der nationalsozialistischen Judenpolitik von der Verfolgung zur Vernichtung die Funktion eines Katalysators zu. Indem sie eine perfekte Mordmaschinerie bereitstellte, trug die "Euthanasieaktion" entscheidend dazu bei, daß an die Stelle des ursprünglichen Deportationsprogramms die physische Liquidierung trat.
Nachdem psychische Krankheit und geistige Behinderung über die empirische Erbprognose Eingang in die Indikationsstellung zur rassenhygienischen Sterilisierung gehunden hatten, war das rassenhygienische Programm des Nationalsozialismus, politisch implementiert durch das GzVeN, infolge der Dynamik, die durch das Wechselspiel von charismatischer Legitimationsbasis und polykratischer Struktur im Nationalsozialismus bedingt wurde, einem Radikalisierungsprozeß unterworfen, dessen Endpunkt die "Euthanasitaktion" bildete. Im Zuge dieses Radikalisierungsprozesses wurde das Tötungsverbot aufgehoben, das durch deontologische Konventionen, die auf den Hippokratischen Eid zurückgingen, juristische Kautelen, z. B. den 216 RStGB, und moraltheologische Postulate, die auf dem Fünften Gebot gründeten, abgesichert war. Dadurch wurden die Psychiatrie, die Justiz und die Kirchen in die "Euthanasie" involviert. Hierbei griffen wiederum die Diffusion des rassenhygienischen Paradigmas in die medizinische, juristische und theologische Diskussion und die Destruierung des Normenstaates durch den nationalsozialistischen Maßnahmenstaat ineinander.
1. Die Preisgabe des als unbrauchbar abgeschriebenen Teils der Anstaltsbevölkerung, zu der sich - allen Verhaltensmaßregeln der ärztlichen Pflichtenlehre zum Trotz - die Avantgarde der Psychiatrie bereitfand, lag ein pervertierter "therapeutischer Idealismus" zugrunde, der auf der Dialektik von Heilung und Vernichtung beruhte: der Heilung der Heilbaren und der Vernichtung der Unheilbaren, die in der übergeordneten Zielsetzung der Volksgesundheit zusammenfielen. Die Vernichtung zielte trotz der haarsträubenden Irrtümer im Begutachtungsverfahren auf die Ausrottung ganz bestimmter Teile der Anstaltsbevölkerung: der Langzeitpatienten, deren chronische Krankheiten oder geistige Behinderungen die Behandlungsmöglichkeiten überstiegen, die im Zeitraum zwischen den 1920er und 1940er Jahren durch eine Reihe therapeutischer Innovationen, zu denen vor allem die Insulin-, Cardiazol-, Elektroschock- und Arbeitstherapie zu zählen sind erheblich erweitert worden waren; sodann der Patienten, die auf der Grundlage der Lehre von den "psychopathischen Persönlichkeiten" als anlagebedingt "asozial" oder kriminell klassifiziert wurden; schließlich der Patienten die als Juden, Polen oder Russen nach rassistischen Kriterie n als behandlungsunwürdig galten.
Die "Euthanasieaktion" war eingebettet in ein ambitioniertes therapeutisches Programm. Die Psychiatrie sollte sich in Zukunft - so stellten es sich die Euthanasieplaner vor - auf die Behandlung exogener, durch Umwelteinflüsse bedingter und bestimmter endogener, durch spontane genetische Mutationen hervorgerufener Erkrankungen beschränken. In der Übergangszeit sollten, bis das Programm negativer Eugenik griff, auch die Patlenten, die an einer vermeintlich erblichen psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung litten, einer "aktiven Therapie" unterzogen werden, um ihre Arbeitskraft auszuschöpfen - vorausgesetzt, sie wurden unfruchtbar gemacht, um sie in der Generationenfolge "auszumerzen". Der "Euthanasie" fiel die Aufgabe zu, die nicht mehr arbeits- und behandlungsfahigen Patienten zu beseitigen, wobei die psychiatrischen Erbkreise besonders berücksichtigt werden sollten.
Die Euthanasieplaner hofften, die infolge der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" unausweichliche Reduzierung der Bettenkapazitäten in der Anstaltspsychiatrie - bis zum August 1943 waren bereits über 90000 von 280000 Anstaltsbetten zweckentfremdet worden - in Grenzen halten zu können, um freigesetzte Ressourcen fur eine Modernisierung der Psychiatrie zu nutzen. Im Gegensatz zu einigen Anstaltsdezernenten in den Provinzial- und Länderbehörden, die das Anstaltswesen ganz abschaffen wollten, strebten sie eine tiefgreifende Umgestaltung der Anstaltspsychiatrie an. Zu diesem Zweck sollten die Heil- und Pflegeanstalten, die von den Provinzial- und Landesbehörden verwaltet wurden, einer Reichsbehörde unterstellt werden, deren Kern die Euthanasiezentraldienststelle bilden sollte. Durch die Auflösung der privaten und caritativen Institutionen sollte das Anstaltswesen allmählich verstaatlicht werden. Geplant war ferner die Trennung von Heil- und Pflegeanstalten.
Während die Pflegeanstalten der Verwahrung der Unheilbaren, sofern sie nicht der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" anheimfielen, dienen sollten, waren die Heilanstalten, die 1000 bis 1200 Betten umfassen sollten, als reine Heilstätten, ausgerüstet mit den modernsten therapeutischen Apparaturen, gedacht. Um die Aus- und Fortbildung der Anstaltsärzte zu verbessern und den Austausch zwischen Anstalts- und Universitätspsychiatrie zu fördern, aber auch, um den bei der Arbeitstherapie erzeugten Produkten einen Absatzmarkt zu sichern und Einweisung bzw. Entlassung zu erleichtern, sollten die Heilanstalten nach Möglichkeit in der Nähe städtischer Kultur- und Universitätszentren angesiedelt werden.
Eine Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten erhofften sich die Euthanasieplaner auch von der Grundlagenforschung, die im Rahmen der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" durchgeführt wurde. Nackdem der im Jahre 1941 aufgestellte Plan, die "Euthanasieaktion" zu großangelegten pathologisch-anatomischen Reihenuntersuchungen zu nutzen, an denen 14 der 30 anatomischen Institute der deutschen Universitäten beteiligt werden sollten, aufgegeben worden war, richtete die Euthanasiezentrale zwei Forschungsabteilungen ein: die eine in der Landesheilanstalt Brandenburg-Görden unter der Leitung des Jugendpsychiaters Hans Heinze, die andere in der badischen Anstalt Wiesloch bzw. in der Universitätsklinik Heidelberg unter Leitung des Heidelberger Ordinarius für Psychiatrie Carl Schneider. In den Forschungsabteilungen wurden wissenschaftlich interessante Fälle klinisch beobachtet, bevor sie in die Tötungsanstalten überfuhrt wurden. Ihre Gehirne wurden zur pathologisch-anatomischen Untersuchung in die Forschungsabteilungen zurückgebracht. Ähnliche Forschungen wurden auch von Psychiatern, die außerhalb des Euthanasieapparates standen, betrieben.
Besorgt zeigten sich die in die "Euthanasieaktion" verwickelten Psychiater über das Negativimage der Psychiatrie, das siejedoch nicht auf die "Euthanasieaktion" zurückführten. Um die Abwanderung des ärztlichen Nachwuchses aufzuhalten, war sogar geplant, das Euthanasieprogramm anläßlich der Jahrestagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Oktober 1941 offenzulegen, um die durch die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" erweiterten Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Kritik aus den Reihen der Ärzteschaft wußte die Euthanasiezentrale, gestützt auf die Reichsgesundheitsführung, zu unterdrücken. Um die Öffentlichkeit fur die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" einzunehmen, richtete die Euthanasiezentrale eine Propagandaabteilung ein, die sich vor allem des Mediums Film bediente. Ihr größter Erfolg war der Spielfilm "Ich klage an".
2. Die "Euthanasie" spielte sich in einem der rechtlosen Hohlräume ab, die für den "halbierten" Rechtsstaat kennzeichnend waren, der die Rechtsordnung des "Dritten Reiches" prägte. Von daher war sie auf eine legislative Fixierung nicht angewiesen. De lege lata blieb die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" bis zum Zusammenbruch Deutschlands verboten, obwohl die Euthanasiezentraldienststelle selber den Entwurf zu einem Gesetz über Sterbehilfe bei unheilbar Kranken beriet. Die Euthanasiezentrale war aus drei Gründen an einer gesetzlichen Regelung interessiert. Zum einen erwies es sich als schwierig, ernsthaften Widerstand auf der Ebene der Provinzialund Landesbehörden ohne gesetzliche Handhabe auszuräumen; zum anderen widersprach das formlose Vorgehen dem wissenschaftlichen Anspruch der Euthanasieplaner; schließlich war den an der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" beteiligten Ärzten daran gelegen, daß die ihnen zugesicherte Straffreiheit verbrieft wurde. Das Gesetz über Sterbehilfe bei unheilbar Kranken, das auf Entwürfen basierte, die im Jahre 1939 von Hitlers Leibarzt Theo Morell, von der amtlichen Strafrechtskommission und von Staatssekretär Hans Heinrich Lammers erarbeitet worden waren, wurde im Oktober 1940 abschließend beraten, von Hitler, der an einer unbürokratischen Prozedur unter Umgehung der staatlichen Dienststellen und in völliger Geheimhaltung interessiert war, jedoch endgültig verworfen.
Reichsjustizminister Franz Gürtner erfuhr, da er zu den Vorgesprächen in der Planungsphase der "Euthanasie" nicht hinzugezogen worden war, erst im Juli 1940 durch Eingaben von außerhalb seines Dienstbereichs und durch Berichte nachgeordneter Dienststellen von der "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Weil es, verursacht durch die "Euthanasieaktion", zu Friktionen im Justizapparat kam, bemühte sich Gürtner anfanglich um eine gesetzliche Regelung. Als sich jedoch herausstellte, daß der Massenmord hinter Anstaltsmauern von Hitler gedeckt wurde, war die Justiz sogar bereit, zur Tarnung der ungesetzlichen Maßnahmen beizutragen, um die rechtlosen Räume, in denen sich die "Euthanasie" abspielte, zu ummanteln. Zu diesem Zweck wurden die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte auf einer Tagung, die im April 1941 in Berlin stattfand, of fiziell von der "Euthanasieaktion~ in Kenntnis gesetzt. Sie veranlaßten daraufhin, daß alle Versuche einer strafrechtlichen Verfolgung der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" niedergeschlagen wurden.
3. Die moralische Autorität der Kirchen verlor im Vorfeld der Vernichtung an Gewicht, weil sich - insbesondere auf seiten der evangelischen Kirche - die kirchliche Wohlfahrtspflege rassenhygienischen Postulaten geöffnet hatte. Zwar wurde die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" in den 1920er und 1930er Jahren von katholischen wie evangelischen Theologenvon einzelnen Ausnahmen abgesehen - einmütig zurückgewiesen, doch war insbesondere die IM tief in die rassenhygienische Sterilisierung auf der Grundlage des GzVeN verstrickt.
Als die Kirchen mit der "Euthanasieaktion" konfrontiert wurden, waren drei verschiedene Verhaltensmuster erkennbar:
1. Einzelne kirchliche Amtsträger, etwa der württembergische Landesbischof Wurm, versuchten, durch vertrauliche Eingaben an staatliche Behörden das nationalsozialistische Regime zum Einlenken zu bewegen. Diese Protestform ging von einem Staatsbild aus, das sich am Lutherschen Obrigkeitsgedanken, insbesondere an der Zwei-Reiche-Lehre orientierte. Sie wahrte die unbedingte Loyalität der Kirche gegenüber dem Staat. Hinzu kam, daß die Protagonisten dieser Handlungsstrategie den völkischen Gedanken in die christliche Lehre einbrachten und mit den ordnungspolitischen Vorstellungen der Nationalsozialisten teilweise übereinstimmten. Zudem erkannten sie die Wirkung nicht, die das Schweigen der Kirche in der Öffentlichkeit nach sich zog. Da sie von einer Fehlbeurteilung des nationalsozialistischen Regimes ausgingen, trugen sie kaum zur Beendigung des Massenmordes hinter Anstaltsmauern bei.
2. Konfessionelle Heil- und Pflegeanstalten, etwa die v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, versuchten, die "Euthanasieaktion" durch eine verdeckte Obstruktionspolitik zu verzögern, um eine möglichst große Zahl von Opfern vor dem Tod zu bewahren. Dieses Verhalten, das strikt die Legalität wahrte, schien den verantwortlichen Anstaltsleitern insofern angemessen, als sie bei offenem Widerstand mit einer Auflösung der Anstalten rechneten. Fragwürdig ist, daß diese Form des Widerstandes nur zu oft mit der Preisgabe der hinfilligsten Anstaltspfleglinge verbunden war. Außerdem lag eine Gefahr in dem pro-domo-Denken, wie es etwa im CA für die IM vorherrschte. Manchmal wurde, um die eigenen Anstaltspfleglinge zu retten, dem Staat nicht grundsätzlich das Recht abgesprochen, "lebensunwertes Leben" auszulöschen, und damit der Kampf um die Kranken in den öffentlichen Einrichtungen aufgegeben. Durch den Widerstand der kirchlichen Anstalten konnte zwar eine beträchtliche Anzahl von Menschenleben gerettet werden; ein Ende des Massenmordes war aber auf diese Weise nicht herbeizuführen.
3. Eine dritte Protestform, die von Amtsträgern der Kirchen vorgeschlagen und verwirklicht wurde, zielte auf die Herstellung von Öffentlichkeit durch die Thematisierung der "Euthanasie" etwa in der Predigt ab. Beispielhaft war die Predigt des Bischofs v. Galen vom 3. August 1941. Die Durchbrechung der Geheimhaltung bot die Möglichkeit - unter Inkaufnahme eines enormen Risikos, wie die Blutopfer zeigen, die diese Widerstandshorm forderte -, Druck auf das nationalsozialistische Regime auszuüben.
Die kausalgenetische Interpretation der "Euthanasie" im Nationalsozialismus wirft Licht auf drei zentrale Problemkreise, die im Mittelpunkt der Kontroversen um den Nationalsozialismus stehen:
1. Die Genesis der "Euthanasie" war nicht auf einen zentral gesteuerten, planrationalen Entscheidungsprozeß zurückzuführen, sondern auf die spontane Improvisation, die sich im Spannungsfeld von Kompetenzkonflikten zwischen konkurrierenden Herrschaftsträgern entwickelten. Sie ist ein Beleg für die These, daß die Herrschaftsstruktur des nationalsozialistischen Regimes durch die Aushöhlung des an Gesetzesnormen orientierten bürokratischen Anstaltsstaates gekennzeichnet war, an dessen Stelle die Polykratie rivalisierender Machtzentren im Gehäuse einer charismatisch legitimierten Führerherrschaft trat. Die "Euthanasie" ist ein Musterbeispiel dafür, daß sich die Herrschaftsausübung über gesellschaftliche Randbereiche im "Dritten Reich" in den rechtlosen Hohlraum des Maßnahmenstaates verlagerte, der nach außen hin durch den Normenstaat notdürftig ummantelt wurde.
2. Die Mechanismen, die in der Ära des Nationalsozialismus zur Radikalisierung des rassenhygienischen Programms von der Sterilisierung zur "Euthanasie" fuhrten, können auch auf die sich allmählich verschärfende Ausgrenzung von "Fremdvölkischen" und "Gemeinschaftsfremden" im "Dritten Reich" übertragen werden. Insofern stellte die Genesis der "Euthanasie" ein Modell der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik dar. Am Wendepunkt von der Verfolgung zur Vernichtung verflochten sich die verschiedenen Stränge der Vernichtungspolitik, wobei der "Eutbanasie" eine Vorreiterrolle zufiel. In der unmittelbaren Vorgeschichte der "Endlösung der Judenfrage" nahm die "Euthanasieaktion" breiten Raum ein. Uber weite Strecken wirkte der Holocaust wie eine ins millionenfache gesteigerte Euthanasiepraxis. Die "Euthanasie" stand mithin im Mittelpunkt einer umfassenden Vernichtungspolitik, mit der das nationalsozialistische Regime eine "Endlösung der sozialen Frage" herbeizuführen versuchte.
3. Das Euthanasieprogramm war kein genuin nationalsozialistisches Phänomen. Vielmehr hatte sich die nationalsozialistische Ideologie das rassenhygienische Argumentationsschema, in das die Idee der "Euthanasie" eingelagert war, erst in den 1920erJahren assimiliert. Bei der Realisierung des Euthanasieprogramms fanden sich dementsprechend alte und neue Funktionseliten auf dem Feld der Gesundheits- und Sozialpolitik zu einer Interessenkoalition zusammen, die sich in der Zusammensetzung der Euthanasiezentraldienststelle widerspiegelte. Außernormative Machtaggregate, Teile der traditionellen Ministerialbürokratie auf Reichs-, Länder- und Provinzebene sowie Expertenstäbe, die vornehmlich aus Erbpsychiatern und Rassenhygienikern bestanden, wirkten bei der "Euthanasieaktion" zusammen. Insofern verweist die "Euthanasieaktion" auf historische Kontinuitäten, die auch im Umgang mit Unheilbarem einen "deutschen Sonderweg" konstituierten.
Die Untersuchung hat bestätigt, daß es - über das historiographische Interesse hinaus - gute Gründe gibt, die Forschung zur "Euthanasie" im Nationalsozialismus zu intensivieren:
1. Die Strafverfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die hinter Anstaltsmauern begangen wurden, ist noch immer nicht abgeschlossen. Der Prozeß gegen die T4-Tötungsärzte Aquilin Ullrich und Heinrich Bunke, der 1985-87 vor der 22. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt stattfand, zeigt, daß dies nicht nur auf die von der Justiz verschuldeten Versäumnisse zurückzufuhren ist. Das Verfahren kam, nachdem ein bereits 1967 verhängtes Urteil wegen krasser Widersprüche in der Urteilsbegründung 1970 vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden war, nicht zuletzt deshalb erst nach vierzehnjährigem Stillstand wieder in Gang, weil sich immer wieder Ärzte fanden, die ihre angeklagten Standesgenossen mit fadenscheinigen Begründungen fur verhandlungsunfahig erklärten.
2. Die Opfer der Zwangssterilisierung - wie auch die Überlebenden der Deportationen in die Zentren der "wilden Eutbanasie" - und ihre Angehörigen sind bis heute von Wiedergutmachungsleistungen im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes ausgeschlossen.2 Dies bedentet auch, daß das GzVeN bis heute nicht als nationalsozialistisches Unrechtsgesetz gebrandmarkt worden ist und daß die menschenunwürdigen Verhältnisse in den Todesanstalten nachträglich für rechtens erklärt werden.
3. Gelenkt von obskuren Organisationen wie der Deutschen Gesellschaft fur Humanes Sterben, die den MedizinkritikerJulius Hackethal als Gallionsfigur benutzt, lebt in der Bundesrepublik Deutschland die Diskussion um "Euthanasie", Sterbehilfe und Tötung auf Verlangen wieder auf. Dabei wird die "Euthanasie" als scheinbar übergeschichtliches Problem behandelt, ohne zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Debatte in denselben Bahnen bewegt wie in den 1920er Jahren, als sich das der "Euthanasie" zugrundeliegende Ideenkonglomerat herausbildete.
4. Die Einbettung der "Euthanasie" im Nationalsczialismus in ein Programm zur Psychiatriereform, das in einigen Grundzügen - insbesondere in Hinblick auf die Trennung von Heil- und Pflegeanstalten - in den siebziger Jahren verwirklicht wurde, wirft die Frage auf, inwieweit die Psychiatrie auch heute noch von einem "therapeutischen Idealismus" getragen wird, der zu Lasten der chronisch Kranken und Behinderten geht.
5. Das Programm negativer Eugenik, das die "Euthanasie" einrahmte, könnte durch wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen im Bereich der Humangenetik wieder aktuell werden. Erreicht die Humangenetik ihr erklärtes Nahziel, die Genomanalyse, d. h. die Entschlüsselung der genetischen Information, mit deren Hilfe Erbkrankheiten frühzeitig diagnostiziert werden können, steht zu erwarten, daß Unfruchtbarmachung und Abtreibung aus eugenischer Indikation sprunghaft zunehnen werden, ehe noch die Humangenetik eine effektive Gentherapie entwickeln könnte.

Zusammenfassung von Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie

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Most recent revision: April 07, 1998

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