"Zigeuner"

Sprachvergleiche zeigen, daß Roma und Sinti aus Indien stammen. Sie zogen nicht aus einem angebotenen "Wandertrieb" nach Europa, sondern weil Not, Kriege und Verfolgung sie dazu zwangen. Vor allem auf dem Balkan waren sie aber auch über Jahrhunderte seßhaft. Es existieren zahlreiche unterschiedliche Gruppen von Roma und Sinti; das Spektrum ihrer Kulturen ist breit gefächert. Meist setzen sie sich durch ihre Sprache, das Romanes, sowie durch besondere Tabus und Regeln von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft ab. Unser Wissen über Roma und Sinti bleibt beschränkt, solange die Abgrenzung ein grundlegendes Merkmal ihrer Lebensweise ist.
Die Anwesenheit von "Zigeunern" in Deutschland wird erstmals 1407 erwähnt. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert grenzte die Ständegesellschaft Randexistenzen wie die Sinti und Roma durch Vertreibung, Auseinanderreißen der Familien, Arbeitshaus, Folter und Erschießungen aus. Als Reaktion auf die Verfolgung bildeten sich vielfach Räuberbanden, an denen sich verarmte Bauern, mittellose Juden und auch Sinti beteiligten. Im Spätabsolutismus kamen Versuche auf, die "Zigeuner" den Normen der Erwerbsgesellschaft anzupassen und unter Zwang seßhaft zu machen. Die Zwangsansiedlung scheiterte meist an der ungeduldigen Durchführung und am Eigen-Sinn der "Zigeuner". Nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurden die staatlichen Kontroll- und Verwaltungsmaßnahmen gegen Sinti und Roma verschärft. Der polizeilichen "Zigeunerbekämpfung", die den Charakter eines diskriminierenierenden Sonderrechts trug war kein Erfolg beschieden, da die betroffenen Behörden in der Praxis nur im Auge hatten, Sinti und Roma aus ihrem Zuständigkeitsbereich fernzuhalten. So standen sie sich gegenseitig im Weg.
Seit dem 19. Jahrhundert wurden zunehmend Eigenschaften auf die "Zigeuner" projiziert, die in der durch Arbeit und Disziplin geprägten bürgerlichen Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Sinti und Roma wurden auf Klischees wie die sexuell verführerische Zigeunerin, den genialischen Zigeunergeiger, die hexengleiche Wahrsagerin und den räuberisch vagabundierenden Zigeuner reduziert. Einerseits galten sie als "edle Wilde", andererseits als kulturlose Primitive und "Lumpenproletarier". In diesen Stereotypen waren gleichermaßen Ausbruchssehnsucht und Angst vor dem Fremden aufgehoben.
Bereits in den ersten Jahren der NS-Herrschaft wurden zahlreiche Gesetze und Verordnungen gegen Sinti und Roma verschärft. Seit 1936 war ihnen auf der Basis des "Blutschutz"- und des "Ehegesundheitsgesetzes" entweder als "Artfremden" oder als "Gemeinschaftsfremden" eine Eheschließung mit "Deutschblütigen" verboten. Dadurch wurde das herkömmliche zweifache Feindbild, das die Sinti und Roma als beunruhigende Fremde sowie als vergeblich arbeitsscheue Schmarotzer stigmatisierte, aufgegriffen und auf das Raster des NS-Rassismus bezogen, der auf eine biologische Lösung gesellschaftlicher Fragen zielte.
Im Gefolge einer "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" wurden 1938 zahlreiche Sinti, die nicht dem NS- Verständnis von "geregelter Arbeit" entsprachen, in Buchenwald, Sachsenhausen oder Dachau konzentriert. 1938/39 wurde zudem ein kriminalpolizeilicher Apparat aufgebaut, der eigens der "Zigeunerbekämpfung" diente.
Ein Erlaß des Reichsführers SS Himmler vom 8. Dezember 1938 verlangte eine "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus". Zur Erfassung und rassistisehen Einordnung der Sinti und Roma trug die 1936 gegründete "Rassenhygienische Forschungsstelle" beim Reichsgesundheitsamt maßgeblich bei. Man verfaßte dort "gutachtliche Äußerungen", mit denen Personen als "Zigeuner" oder "Zigeunermischlinge" eingestuft wurden. Jene Einstufungen bildeten 1943 die Grundlage für die Deportation deutscher Sinti und Roma nach Auschwitz.
Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 ordnete das Reichssicherheitshauptamt an, daß Sinti und Roma ihren Aufenthalts- beziehungsweise Wohnort nicht mehr verlassen dürften. Diese Festsetzung ging mit Berufsverboten und der sozialen Isolation einher. Im Mai 1940 wurden 2500 Sinti in das deutsch besetzte Polen deportiert; im Dezember 1941 wurden etwa 5000 Sinti und Roma aus Ungarn, Rumänien, Österreich und Deutschland im Ghetto Lodz konzentriert und - soweit sie nicht dort den "Lebensumständen erlagen - in Kulmhof in Gaswagen erstickt. SS-Einsatzgruppen, Wehrmachtsteile und Besatzungsbehörden machten nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR 1941 in den okkupierten Gebieten Osteuropas und des Balkans die Massenerschießung zum Hauptmittel der deutschen Zigeunerpolitik.
Das Reichssicherheitshauptamt verfügte schließlich für den März 1943 die Konzentration "zigeunerischer Personen" in Auschwitz-Birkenau. Für "Zigeunermischlinge", die nicht deportiert wurden, war die Zwangssterilisation vorgesehen. Von den in Auschwitz-Birkenau zusammengepferchten 23000 Roma und Sinti aus elf europäischen Ländern fanden über 21000 den Tod. Die Gesamtzahl der im Rahmen des NS-Völkermords ermordeten "Zigeuner" wird zwischen 220000 und 500000 Personen geschätzt. Von einer Entschädigungsregelung, die den noch lebenden Opfern der NS-Zigeunerverfolgung einen Lebensabend ohne materielle Not ermöglichen würde, kann in der Bundesrepublik keine Rede sein.
Literatur: Reimer Gronemeyer, Georgia A. Rakelmann, Die Zigeuner. Reisende in Europa. Köln 1988; Michael Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma. Essen 1989.
aus: Legenden Lügen Vorurteile, Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte Hrg. von Wolfgang Benz

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Most recent revision: April 07, 1998

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