Ende des deutschen Nationalstaats (Karl Jaspers)

Die Geschichte des deutschen Nationalstaats ist zu Ende, nicht die Geschichte der Deutschen. Was wir als große Nation uns und der Welt leisten können, ist die Einsicht in die Weltsituation heute: daß der Nationalstaatsgedanke heute das Unheil Europas und nun auch aller Kontinente ist. Während der Nationalstaatsgedanke die heute übermächtige zerstörende Kraft der Erde ist, könnten wir beginnen, ihn in der Wurzel zu durchschauen und aufzuheben.
Daß der deutsche Nationalstaat der Vergangenheit angehöre, besagt nicht, daß der Wahn seiner noch fortbestehenden Realität nicht selber real sei. Es besagt, daß die Irrealität des Wahninhalts, wenn sie fortbesteht, auf Kosten seiner Träger und der Welt durch eine neue Katastrophe an den Tag gebracht würde.
Die gewaltige wirtschaftliche und die beginnende militärische Kraft der Bundesrepublik - nach der Situation von 1945 wie ein Wunder - kann von neuem zu dem Irrtum führen, Wirtschaft und Armee bestimmten die Wahrheit der Geschichte. Aber sie sind nur Mittel und bedürfen der Führung durch die Idee der Freiheit.
Die führungslose Gewalt der Mittel stürzt in den Abgrund. Daß aus dem Abgrund Erhebung stattfindet, wurde und wird als selbstverständlich angesehen. Darum greift man im Wahn zu der Macht, um Unmögliches zu erzwingen, in der Erwartung, daß Deutschland ewig bleibt im Wechsel von Untergang und Wiederherstellung. Jetzt gilt das keinesfalls mehr. Ein nochmaliger Untergang wäre der endgültige.
Schon sehen wir die alten blinden Kräfte wieder, die &hibar;mehr und mehr und mehr wollen® (wie Adenauer warnend und beschwörend sagte). Sie werden heute stärker im Stolz auf deutsche Tüchtigkeit (etwa: als Exportland steht die Bundesrepublik an zweiter Stelle, vor ihr Amerika, kurz nach ihr England) und uneingestanden vielleicht schon im Stolz auf die entstehende deutsche Wehrmacht. Als ersten Schritt fassen sie ins Auge die Wiedervereinigung.
Die Macht der Widervernünftigen wächst mit der Energie der Wirtschaft und der Stärke der Armee. Sie wird übermütig. Aber Wirtschaftskraft und Militärkraft sind, in aller Tüchtigkeit, wie die Erfahrung den immer wieder Erstaunten seit einem Jahrhundert lehrt, im ganzen und damit politisch blind.
Aber die Deutschen? Die sie nicht kennen, nennen sie auf Grund der jüngsten Geschichte ein undurchsichtiges Volk, ruinös für sich und die anderen. Fast alles ist im einzelnen, was man dafür an Tatsachen angibt, richtig (...)
Heute wird politisch dieses eine entscheidend werden: Bei uns ist das nationale Staatsbewußtsein zum entsetzlicheren Unheil geworden als irgendwo in der Geschichte. Wir sind mehr als andere durch Erfahrung vorbereitet, den radikalen Schritt zu tun vom nationalen Staatsbewußtsein zum Staatsbewußtsein unter der Idee menschlicher Freiheit.
Dieser Schritt ist für die Welt, nicht nur für unser eigenes Heil von Bedeutung. Denn in der Welt feiert der nationale Staatswille neue unheilvolle Triumphe. In Europa hindert der staatliche Nationalstolz den wirksamen und zuverlässigen Zusammenschluß zur gemeinsamen Selbstbehauptung der Freiheit. Denn die Einheit des Abendlandes setzt den Verzicht auf die Souveränität der Nationalstaaten voraus. Wenn de Gaulle die schönen und unklaren Wendungen findet wie &hibar;Europa der Vaterländer®, so verbirgt er den sonst von ihm rückhaltlos ausgesprochenen französischen staatlichen Nationalstolz. Die Wendung klingt zwar wahr: denn natürlich ist Europa die Einheit der in ihrer großartigen Mannigfaltigkeit erscheinenden, sich suchenden und gegenseitig Leben gebenden Völker; aber falsch ist geworden die staatliche Souveränität der Nationen, die de Gaulle meint.
So ist es überall und am maßlosesten in den vom Kolonialismus befreiten Völkern. Wir wissen, was die Folge ist. Die Tatsache des auf der ganzen Erde blühenden gegenwärtigen Nationalismus ist kein Grund, ihn mitzumachen. Die Kraft des Geistes und die Wirklichkeit der eigenen Staatsentwicklung sollen vielmehr bezeugen, daß er keineswegs notwendig ist. Notwendig aber ist die in den Herzen einer Bevölkerung lebende und praktizierte Staatsverfassung unter den Ideen der politischen Freiheit und der auf die Dauer nur durch sie geschätzten persönlichen Freiheit der Lebensform im Rechtsstaat.
Nicht Rückkehr vom Nationalstaat zum Weltbürgertum, sondern Fortgang zur Verwirklichung der Freiheit im Gesamtleben konföderierter Staaten ist die Aufgabe.

aus: Karl Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik. München 1960. S. 53-55.

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Most recent revision: April 07, 1998

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