Der Nationalismus als Integrationsideologie(Eugen Lemberg)
Was also die Nationen zu Nationen macht oder - allgemeiner gesagt - große gesellschaftliche Gruppen zielselbstbewußten, aktionsfähigen, nationalen oder nationähnlichen Gemeinschaften bindet und von ihrer Umwelt abgrenzt, das ist nicht die Gemeinsamkeit irgendeines Merkmals, die Gleichheit der Sprache, der Abstammung, des Charakters, der Kultur oder der Unterstellung unter eine gemeinsame Staatsgewalt, sondern umgekehrt: ein System von Vorstellungen, Wertungen und Normen, ein Welt- und Gesellschaftsbild, und das bedeutet: eine Ideologie, die eine durch irgendeines der erwähnten Merkmale gekennzeichnete Großgruppe ihre Zusammengehörigkeit bewußt macht und dieser Zusammengehörigkeit einen besonderen Wert zuschreibt, mit anderen Worten: diese Großgruppe integriert und gegen ihre Umwelt abgrenzt.
Die Merkmale, an denen sich diese Ideologie dabei orientiert, sind in ihrer Bedeutung gegeneinander abgestuft, im ganzen oder in dieser Bedeutung gegeneinander austauschbar. Je nach Epoche oder Kulturkreis oder nach den besonderen Bedingungen der betreffenden Gesellschaft tritt eines stärker, ja ausschließlich hervor, treten andere mehr oder weniger zurück. Eben in dieser Austauschbarkeit und wechselnden Bedeutung der einzelnen Kriterien sind die Konflikte begründet, die zwischen verschiedenen Gruppen oder Institutionen, ja in der Seele des einzelnen Menschen darüber entstehen, welche dieser Gruppen oder Institutionen für den Einzelnen die verpflichtendste sei. Darin begründet sind auch die einander überkreuzenden Ansprüche verschiedener Institutionen oder Gruppen - also etwa des Staates oder des Volkes oder der Religion - auf einzelne Menschen oder Gruppen.
Wenn es die Gleichheit irgendeines jener Merkmale wäre, was die Nationen zu Nationen macht, was die Träger des gleichen Merkmals zu einer Gemeinschaft auf Leben und Tod verbindet, zu Hingabe, Leistung und Opfer veranlaßt, dann wäre das überlegene Lächeln über dieses Relikt primitiver Gesellschaftszustände berechtigt, ebenso die Erwartung, daß fortschreitende Vernunft und Aufklärung die leidenschaftliche Bindung auf Grund solcher Gleichheit und die daraus entstehenden Konflikte mit der Zeit aus der Welt schaffen werden. Denn welche sittliche Verpflichtung, welchen Anlaß zu Liebe und Haß, zu Heroismus und Verbrechen könnte die Gleichheit der Haarfarbe oder Schädelform oder auch der Sprache und Abstammung geben, wenn dahinter nicht ein Welt- und Gesellschaftsbild, ein System von Werten und Normen stünde, das dieser Gleichheit einen besonderen Wertakzent, einen verpflichtenden Charakter verleiht, den Einzelnen an diejenigen bindet, die mit ihm jenes Merkmal teilen, und von anderen abgrenzt, die dieses Merkmals nicht teilhaft sind! Dieses System von Vorstellungen, Werten und Normen aber, die Ideologie, ist das Primäre und Wesentliche; die Merkmale sind die Hilfsmittel, an denen sie sich orientiert.
Danach ist der Nationalismus eine jener Ideologien, die Großgruppen binden und von ihrer Umwelt abgrenzen, ihnen einen Ort und eine Rolle in der Geschichte der Menschheit oder ihres Kulturkreises zuweisen, die die Hingabe und manchmal den Fanatismus ihrer Angehörigen herausfordern, die diese Angehörigen auf eine Werteordnung verpflichten, ja ihnen den Sinn ihres Lebens deuten. In eine Formel gefaßt erscheint der Nationalismus damit als die Integrationsideologie jener Großgruppen oder Großgesellschaften, in die sich die Menschheit seit Anbeginn gegliedert hat und aller Voraussicht nach auch weiterhin gliedern wird.
Diese Ideologie kann sich an verschiedenen Merkmalen orientieren. Sie gibt den von ihr integrierten Gruppen eine von ihrer Umwelt verschiedene Eigenart, läßt sie manchmal als nationale, manchmal als religiöse, manchmal als anders ideologisch gebundene Gruppen erscheinen, läßt sie politisch mehr oder weniger relevant werden, macht sie zum Substrat eines Herrschaftssystems oder auch einer gegen dieses revoltierenden Bewegung. Diese Ideologie zieht verschiedene Grenzen durch die Landkarte, sie trennt gegebenenfalls auch soziale Schichten voneinander. Immer aber hat sie die gleiche Funktion. Sie ist nicht an ein Zeitalter gebunden.

aus: Eugen Lemberg: Nationalismus. Bd. 2., S. 52f

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Most recent revision: April 07, 1998

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