Zwischen Fremdenfurcht und Neugier
Dieter Kramer



Wie wird man zum Fremden?
"Mein Name ist Borisiaw Herak, geboren in Sarojevo ... 1971. Ich habe in Sorajevo, Drinska 48, gewohnt.... Wo ich gewohnt habe, lebten Serben, Muslime und Kroaten. Noch zuletzt, als der Beschuß begann, richteten wir gemeinsam Wachen ein, alle zusammen.... Als noch Friede war, gingen wir mit den Muslimen aus. Zu Weihnachten kamen sie zu mir, zum Bajram ging ich zu ihnen. Wir waren eine richtige Clique.... Ich hatte einen Verwandten. Er war in der SDS, der serbisch Demokratischen Partei. Er sagte zu mir, die bosnische Territorialverteidigung würde meine Wohnung durchsuchen. Ersagte mir, sie werden mich und die Alte sofort umbringen, weil wir Serben sind ... So bin ich nach Ilijas (Vorort von Sarajevo) gegangen, zum Bruder meiner Mutter ... Der sagte mir sofort, ich mußte das Gewehr in die Hand nehmen und daß ich von der Armee Rationen an Öl, Mehl, Zucker, Salz bekommen würde und daß man mir ein Gehalt zahlen werde. Dann kam der stellvertretende Kommandant ... und gab mir das automatische Gewehr ... Danach kamen die Seselji-Leute ... Sie sollten das Dorf säubern und trieben alle Muslime in der Schule zusammen und sperrten sie dort ein. Danach haben sie die Häuser geplündert. Wer früher nie einen Femseher besessen hatte, trug nun vier, fünf Femseher und andere Sachen fort. ... Es kam der Befehl von diesem Ratko ... Der sagte, es muß kompiett gesäubert werden und daß Serben hier angesiedelt werden ... Pustivuk Duta kam und suchte fünfzehn Leute unteruns aus.... Wir fuhren morgens los und kamen dort in Lastwagen an. Als wir uns näherten, begann die Schießerei. ... Ich schoß auch, aber ich wußte nicht, worauf. Menschen sah ich keine. ... Als die Säuberung begann, sah ich viele von der Armee. ... Sie hatten das Sagen. Hier habe ich zum ersten Mal getötet. ..."(1)
Wir brauchen die Geschichte nicht weiter zu erzählen. Sie wird immer fürchterlicher und endet mit Vergewaltigungen und Mord an Zivilisten.
Es genügt, den schleichenden Prozeß sich vor Augen zu halten, mit dem die Unterscheidung "Eigen/Fremd" konstituiert, Feindschaft aufgebaut, Gewalt möglich wird. Was dem jungen Serben widerfahren ist, das ist niemandem fremd, auch wenn mancher sich unter dem Druck der selbsternannten militärischen Vorgesetzten, die mit den klassischen Mitteln von Lüge und Gewaltdrohung ihre Macht sichern, vielleicht anders verhalten hatte als dieser junge Söldner. Vorsicht ist freilich angesagt: Der jüdische Autor Valentin Senger weist darauf hin, wie schnell zu seinerzeit nach dem Januar 1933 in Frankfurt das Verhalten der Menschen sich änderte. Zu was Menschen im Negativen wie im Positiven fähig sind, wird in Zeiten der Normalltat selten erkennbar.
In vielen Fällen genügt ein Gesetz, ein Dekret, eine Proklamation, und Menschen werden folgenreich und für andere sichtbar ausgegrenzt, zu Ausgewiesenen, Flüchtlingen, Vogelfreien. Die Verfolgungen, Umsiedlungen, Vertreibungen und Völkermorde des 20. Jahrhunderts bieten ein umfangreiches Anschauungsmaterial für diese Formen der administrativ geregelten, aber immer von benennbaren Individuen vollzogenen Ausgrenzung. (2)

Die Konstruktion des Nationalen
Es gibt einen Sog in die ethnisch-kulturell definierte Ausgrenzung und Gewalt. Er beginnt mit der Konstruktion der Wir-Identitat, der "ln- group'. Aber zwischen der allüblichen, für das Überleben sogar notwendigen Konstruktion von "Wir-Gruppen"(3) und der Gewalt gegen andere besteht kein zwingender Zusammenhang. Und es gibt keine Alternative: Menschliches Leben ist auf Vergesellschaftung angewiesen; in der aktuellen globalen Situation steht angesichts der Krise der Moderne und angesichts der Nichtübertragbarkeit der industriegesellschaftlich-modernen Lebensweisen nicht eine lineare Ausbreitung von westlichem Fortschritts- und Menschenrechtsuniversalismus an,sondern werden die kulturellen Unterschiede neu gewichtet und ist das Einüben in das Leben mit der Differenz an der Tagesordnung. Hier entsteht ein Bedarf an Nachdenken und Orientierung, dem sich die Kulturwissenschaften nicht verweigern können - wenn sie denn mehr als folgenlose Liebhabereien sein wollen.
Der moderne Nationalismus ist eine junge Erscheinung und gehört zu den aggressivsten Formen der Bildung von Wir-Gruppen. Ernest Gellner hat den Prozeß beschrieben, in dem die bürgerlichen Nationalstaaten ihren ideologischen Apparatentwickelten. "Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt", belegt er. (4)
Bei ethnischen Gruppen geringerer Komplexitat und kleinerer Ausdehnung verläuft der Prozeß ähnlich, und diesbezüglich sind die Unterschiede vernachlässigbar, auch wenn wir akzeptieren, daß für Wir-Gruppen unterschiedlicher Größe, Dauerhaftigkeit und Struktur verschiedene Begriffe notwendig sind. Der Gründungsmythos, ein "Mythomoteur", wird innerhalb einer Gemeinschaft produziert - und trägt umgekehrt zum Zusammenhalt, zur Definition und zur Zukunftssicherung der Gemeinschaft bei. (5) Das erfolgreiche Wechselspiel erst konstruiert die Einheit der Gemeinschaft, der Ethnie. "Ethnogenese' ist ein vielschichtiger Prozeß, in dem neben materiellen Faktoren wie Territorium, Verwandtschaft, Arbeitsteilung, Macht und Herrschaft gedankliche Konstrukte, wechselnde situative Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie Symbolbildungen eine bedeutende Rolle spielen.
Der deutschen Romantik waren solche Konstruktionen so vertraut, daß sie sie sogar ironisch relativieren konnte. Eine Passage von Novalis, in der das Empfinden eines Herrschers beschrieben wird - es könnte aber auch ein Stamm, ein Volk sein -, sei dazu zitiert: "Seine Dichter hatten ihm unaufhörlich von seiner Verwandtschaft mit den ehemaligen übermenschlichen Beherrschern der Weit vorgesungen und in dem Zauberspiegel ihrer Kunst war ihm der Abstand seiner Herkunft von dem Ursprunge der anderen Menschen, die Herrlichkeit seines Stammes noch heller erschienen, so daß es ihn dünkte, nur durch die edlere Klasse der Dichter mit dem übrigen Menschengeschlecht zusammenzuhängen."(6)
Bei Ernest Gellners Beschreibung der Nationenbildung wird aus den Sängern die intellektuelle nationale Erweckungsbewegung. Er beschreibt diesen Prozeß in einem Modellszenario, das von einer Darstellung der tschechischen Geschichte abgeschrieben sein könnte, wie sie der österreichische Sozialist Otto Bauer schon vor 1914 zur Klärung des Verhältnisses der Sozialdemokratie zur nationalen Frage verfaßt hat.(7) Seine einzelnen Elemente können wir in fast jedem Nationalitätenbildungsprozeß wiederfinden. Gellners "Ruritanier' sind ein unterdrücktes Bauernvolk, das zunächst nur durch eine - sich einer fremden Sprache bedienenden - Herrschaft und Kirchezusammengehalten wird. "Die mitleiderregende Unterdrückung der ruritanischen Bauernschaft provozierte ... einen Kleinkrieg unter Führung des berühmten rurita- nischen Sozialbanditen K.", der später nationalrevolutionär umgedeutet wurde. Mit der Industrialisierung entstand eine zunächst vorwiegend von Intellektuellen getragene "ruritanische Erweckungsbewegung(8), mit deren Antrieb Ruritanien in einer günstigen historischen Situation seine Unabhangigkeit erhielt und dann begann, durch Bildung, Verwaltung, Religion und Nationalkultur die regionalen Besonderheiten zugunsten einer standardisierten ruritanischen Einheitskultur einzuebnen: Innerhalb Ruritaniens soll und darf nur noch eine Kultur gelten (die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ist nur der Gipfel solcher Standardisierungsbemühungen). John W. Cole hat die materiellen Motive für die Zeit der beginnenden nationalen Bewegungen präzis zusammengefaßt: "Jede ethnische Gruppe wollte die Produktion und die Bedingungen für ihre eigene Reproduktion kontrollieren."(9)
Die Idee des in diesem Prozeß gebildeten bzw. angestrebten homogenen Nationalstaates beeinflußt heute noch das Denken vieler, obwohl er historisch eher ein Sonderfall als der Normalfall ist. Erkennbar wird: Ethnisch-kulturelle Differenzierung ist situativ und historisch. Der Nation, der Ethnie, dem Stamm (trotz aller notwendigen besonderen Bezeichnungen für unterschiedliche historisch-soziale Strukturen kann man in diesem Zusammenhang so aufzahlen) haftet keine biologische, keine genetische, geographische oder sonstwie unveränderliche differenzierende Substanz an - alle entstehen sie formell oder/und informell durch geschichtliche Gemeinsamkeiten in Herrschaft, Sprache, Verwandtschaft und Verwaltung sowie durch sich wandelnde Selbst- und Fremdzuschreibungen, und sie verändern sich permanent, wenn auch langsamer als beispielsweise Kultur und Lebensstile.

Substantielle Unterschiede, verschieden begründet
So läßt sich der aktuelle Konsens der meisten Wissenschaftler zusammenfassen. (10) Heute versuchen freilich wieder viele, ethnisch- kulturelle Unterschiede als unveränderlich zu interpretieren. Die Wortführer realer oder imaginierter Wir-Gruppen versuchen, ihre Macht durch den Hinweis auf anthropologische und biologische Strukturen oder auf ethologische Konstanten abzusichern. Verschiedene Begründungen für starre und substantielle ("primordiale') Unterschiede gab und gibt es. Schon die traditionelle deutsche Volkskunde unterstellte vielfach biologisch-anthropologische Konstanten der Kultur und versuchte ein Wesen, ein Ursprüngliches, ein Reines zu rekonstruieren. (11) Stammescharakter wurde der Geschichte vorgelagert und nicht, wie es spätestens seit den Forschungen der Rheinischen Landeskunde zu Stammes- und Verkehrs- bzw. Verwaltungsgrenzen möglich gewesen wäre, als ihr Produkt interpretiert. (12) Ähnlich wurden Rassen oder Kulturen substantialisiert.(13)
In der Gegenwart stehen verschiedene Begründungszusammenhange als Legitimation von statischen Abgrenzungen bereit. Kulturalistische und rassistische Determinationen werden nicht in der alten Form wieder aufgegriffen, sondern kleiden sich neu, z.B. ethologisch, soziobiologisch, genetisch, biochemisch oder neurologisch.(14) "Genetische und biologische Ursachen als Gewaltquelle anerkannt" textet die "Frankfurter Rundschau' in einem Bericht über eine Studie des US-amerikanischen Nationalen Forschungsrates Gewalt verstehen und verhindern", die für die aktuelle Welle der Gewalt in den USA neben den üblicherweise genannten sozialen Ursachen auch Risikofaktoren von biologischer Herkunft und Sozialisation auflistet. (15)
Aber bei allen unterschiedlichen Interpretationsansätzen der verschiedenen Wissenschaften ist der zwingende Schluß von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu Gesellschaft und Politik nicht legitim. Die derzeit besonders intensiv diskutierte Neurobiologie z.B. liefert höchst unterschiedlich interpretierbare Ergebnisse. Die in der Individualentwicklung sich herausbildenden neuronalen "Netze sind anpassungsfähig, sie entwickeln sich abhängig von Umwelt und Geschichte, weshalb das menschliche Hirn 'zugleich vernünftig, sozial und historisch'ist. Darum ist es ein Ziel des Neurobiologen herauszufinden, wie die kulturelle Prägung im Gehirn ihre Spur hinterlaßt." (16) Die Plastizität bleibt erhalten, auch wenn sie unterschiedlich interpretiert werden kann.
Das modernste und einflußreichste konservative Modell der substantialisierten Unterschiede scheint dasienige zu sein, das Vielfalt des Kulturellen zwar akzeptiert, aber die verschiedenen Kulturen als voneinander getrennte Gebilde bewahrtsehen möchte: "Ethnopluralismus" hat man das genannt. Die neue französische Rechte versteht es, damit eine Fülle unterschiedlicher Tendenzen zu bündeln. Sie, so behauptet ihr Wortführer Alain de Benoist, sei nicht gegen die Fremden. ... Sie formuliere die Lösung des Problems des Rassismus im Sinne gegenseitiger Achtung aller Völker und Kulturen. ... Sie seien für die Anerkennung und Respektierung der Verschiedenheit des jeweils anderen statt für deren Einebnung."(17) Aber "Voraussetzung für die gegenseitige Achtung der 'Differenz', meint de Benoist, sei die Selbstbesinnung der Völker auf ihre unverwechselbare und unaustauschbare 'Identität'."(18) Diese "kollektive Identität" wird als substantielle Wirklichkeit betrachtet, nicht als veränderbares und sich permanent veränderndes Produkt von Geschichte. An diesem Punkt verläuft die Scheidelinie zwischen den unterschiedlichen Optionen.(19)
Jene Substantialitat, deren Schein schon Otto Bauer vor dem ersten Weltkrieg durch seine historische Analyse des Nationalismus zerstören wollte, wird hier wieder unterstellt. Und selbst wenn diese Unterschiede als Produkt von Geschichte interpretiert werden (ein Punkt, mit dem sich die neue Rechte auch anderen Argumentationen gegenüber öffnen kann), können sie als so bedeutsam und langfristig persistent angesehen werden, daß aktuell keine Vermischung möglich ist - ähnlich wie die Neuroblologie zwar die Herausbildung der Unterschiede in der Ontogenese feststellen, aber gleichwohl behaupten könnte, daß einmal geschaffene Prägungen nicht mehr veränderbar seien.
Soviel zu den Positionen in diesem Bereich. Dieter Haller hat in seiner kritischen Darstellung der verschiedenen Ansatze darauf hingewiesen, wie notwendig der Beitrag der Ethnologie zu diesen Diskussionen ist, und hat ausführlich die verschiedenen Ansätze dargelegt. (20) Wichtig ist, daß mit einem dynamischen Begriff von ldentität, Ethnizität und Kultur Spielräume eröffnet werden: Nicht die Vorausbestimmtheit des Handelns oder der Handlungsmöglichkeiten durch Biologie, Struktur oder Gesetzmäßigkeiten wird unterstellt, sondern Plastizität. Auch haben wir es nicht zu tun mit einer erst durch Kultur gezähmten (oder zu zähmenden) Biologie bzw. Natur, sondern als "Natur" des Menschen wird seine kulturelle Plastizität erkannt.

Die dynamisierte Identität
Der dynamische Begriff von Ethnizität und Kultur wäre auch eine gute Voraussetzung für ein "zivilgesellschaftliches" Verständnis von sozialkultureller Differenz: Jeder Kultur wird die Fähigkeit der Veränderung zugestanden. Eine weitere Voraussetzung ist die Anerkennung von Vielfalt als Ressource und der Verzicht auf jeglichen Homogenisierungszwang.
Das Beziehungsgeflecht zwischen Heimat, Neugierverhalten und Fremdenangst beschreibt Hilmar Hoffmann mit einem schönen Bild: "Wenn Heimat, Beheimatung, Nestwärme, stabile Bezugsgruppen zum Privileg werden und wenn immer mehr darauf verzichten müssen, ja, sie gar nicht erst finden, dann steigt der Aggressionspegel. ... Wehe, wenn Identität, auf die de Benoist ein so großes Gewicht legt, ist am ehesten als dynamisches Gebilde zu begreifen. Das gilt sowohl für Gruppen wie für Individuen. Angemessen ist es, auszugehen von einem mehrschichtigen Individuum, das sich situations- und lebensphasenspezifisch unterschiedlich verhält. Und man kann argumentieren: Denken und Persönlichkeitsentwicklung bedürfen des Anderen, das Widerspruch erregt und einen ergebnisoffenen Prozeß in Gang bringt.(21) Vielfalt wird damit positiv gewertet. Und es läßt sich sagen, daß nur Gesellschaften, die nicht geschlossen und nichtvöllig homogen sind, das Innovationspotential für die immer wieder notwendigen Anpassungsleistungen besitzen.
Aus solchen Thesen muß kein kultureller "Artenschutz" nach dem Muster der Ökologie entstehen, auch keine "Sicht der Welt als eine(m) sorgfältig zu bewahrenden Völkerkundemuseum", wie Dieter Oberndörfer meint. (22) Jürgen Habermas formuliert die entsprechenden Ansprüche: "Kulturelle Überlieferungen und die in ihnen artikulierten Lebensformen reproduzieren sich normalerweise dadurch, daß sie diejenigen, die sie ergreifen und in ihren Persönlichkeitsstukturen prägen, von sich überzeugen, d. h. zur produktiven Aneignung und Fortführung motivieren."(23)
Wir können uns, so argumentieren manche, "Identität' genausowenig wie "Reinheit" als Ziel- und Normenwert zu eigen machen; auch solle man deshalb nicht von multikultureller Gesellschaft reden, denn wenn und da es keine geschlossenen Kulturen gebe, könne auch keine Gesellschaft existieren, in der sich voneinander geschiedene Kulturen begegnen. In diesem Sinne gibt es keine multikulturelle Gesellschaft, sondern nur eine Gesellschaft, in der vielfaltige Kulturprozesse ablaufen. Sie sind freilich nicht ohne Bezug zu sozialkultureilen Gruppen zu denken. Individuen bilden in konflikthaften Auseinandersetzungen eine dynamische "Persönlichkeit' heraus; ähnlich können und müssen soziale Gruppen mit ihren Normen, Werten und Institutionen zwecks Herstellung von Koharenz und gemeinsamer Ordnung in den unverzichtbaren Bereichen ebenfalls Elemente von Spezifik und Differenz (auch als Möglichkeit der Abgrenzung anderen gegenüber) (24) entwickeln und besitzen somit eine, wenn auch dynamische, Identität. Deshalb macht es vielleicht doch einen Sinn, von der Begegnung von "Kulturen" zu reden, sofern man diese als dynamische Gebilde versteht.
In der Vergangenheit waren Staaten und "Reiche" fast immer ethnisch- kulturelle Mischgebilde mit einer Parallelität vieler Sprachen und Kulturen. Erst der Nationalismus versucht "Volk" (Ethnos) und Staat in Deckung zu bringen. Ernest Gellner unterstellt, eine Hochkultur brauche Homogenität und damit den Nationalismus, um Rationalitat, Effizienz, Koharenz und Mobilität zu sichern, auch wenn Nationen nur historische "Artefakte menschlicher Überzeugungen, Loyalitäten und Solidaritats- beziehungen"(25) seien. Er behauptet: "Echter kultureller Pluralismus ist unter den heutigen Bedingungen nicht mehr möglich.(26) Damit affirmiert er nicht nur die Homogenisierungsbestrebungen des modernen Nationaistaates, sondern er leitet daraus in der von Bassam Tibl referierten Kontroverse mit Clifford Geertz auch universalistische Ansprüche einer "allgemein verbindlichen Auffassung von Wissen für die gesamte Menschheit" ab, das nicht nach Kulturen differenziert sein könne. (27)
Mit guten Gründen warnen andere vor dem Terrorismus des Universalismus, der seine Vorstellungen von Zivilisation zu einer Norm erhebt, der alle zu folgen haben. Auch in der Menschenrechtsdiskussion laßt sich über die kulturelle Kontextuallsierung der Menschenrechtsbegründungen am ehesten Spielraum gewinnen: Wenn Kulturen sich wandeln können und wenn aus verschiedenen religiös-kulturellen Begründungen heraus Menschenrechtskataloge prozessual entwickelt werden können, die sich immer mehr angleichen, dann braucht keine Kultur sich bevormundet zu fühlen.
Festzuhalten ist: Kulturen ändern sich in einem unabschließbaren Prozeß. Es würde vielen unmenschlichen Praktiken von ethnischen Säuberungen"(28) und "Ethnoplurolismus", aber auch des Modernisierungszwanges (z.B. den indigenen Völkern gegenüber) der Boden für die ideologische Rechtfertigung entzogen, wenn ein dynamischer Begriff von Ethnos, Kultur, Nation usf. allgemein anerkannt ware.
Wenn man solchen Prämissen zustimmt, dann laßt man sich allerdings auf komplizierte Prozesse ein. Nur ein Beispiel: Rita Waschbüsch, die Prösidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat sich im August 1994 für die Einführung von Islamunterricht an deutschen Schulen ausgesprochen, um moslemischen Schülern ihre Religion als offen und rücksichtnehmend zu vermittein. (29) Würde dies geschehen, ohne daß man den islamischen Religionsgemeinschaften ähnliche Mitspracherechte zubilligen würde wie den christlichen Kirchen beim Religionsunterricht, kame es mit Sicherheit zu Spannungen. Geht man so wie bei ihnen vor, so könnte daraus ein vielschichtiger Prozeß des Aushandelns entstehen (und es wird interessant sein, die diesbezüglichen Entwicklungen beim Islam-Unterricht in Nordrhein-Westfalen zu beobachten). In der deutschen Geschichte haben sich die Kirchen ebenfalls sehr intensiv gegen die Weltlichkeit der Schule gewehrt, und es gab und gibt immer wieder Konflikte um den Religionsunterricht.
Mißverständnisse werden nicht auszuschließen sein - man denke nur daran, mit welcher Vehemenz die abendlandische Zivilisation die Anthropophagie bekämpft hat, in den christlichen Kulten aber gleichzeitig Formen der Anthropophagie praktiziert, deren nur symbolischer Charakter vehement bestritten wird. Aber vielleicht gehören solche Auseinandersetzungen zur "Zivilgesellschaft".
Mit Institutionen und Strukturen muß jede Kultur ihre inneren Widersprüche und Spannungen unter Kontrolle halten, denn es gibt keine homogenen Kulturen, so wie es auch keine ethnische oder kulturelle Reinheit oder einen "Ursprung" gibt. In welchem Grade aber sind die Individuen gezwungen, sich ihren Kollektiven zu unterwerfen, und in welchem Maße können sie ihre Wir-Gruppen als Voraussetzung zur Entfaltung ihrer lndividualität benutzen? Das ist nicht erst seit der modernen Diskussion um allgemeine Menschenrechte die alt-neue Streitfrage. Für die Ethnologen ist es kein neues Thema. Das "Statement on Human Rights" des Executive Board der "American Anthropological Association', der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen am 24. Juni 1947 übermittelt, betont, daß Individual- und Kollektivrechte ein spannungsreiches Geflecht bilden. Eine Menschenrechtserklarung muß daher beachten, sagen sie, daß Individuen Mitglieder sozialer Gruppen sind, die das Verhalten prägen und mit deren Schicksal sie unlösbarverbunden sind. (30)
Rechte und Pflichten der Mitglieder und der Teilgruppen innerhalb einer Gruppe müssen beständig bestätigt oder neu definiert werden. In dem Maße, in dem die Untereinheiten einer Gruppe aus der eigenen Kultur heraus Rechte für sich als Individuen verlangen und durchsetzen, nehmen sie aktiv teil an der Herausbildung der - dann kulturell kontextualisierten - Menschenrechte. So ist es geschehen in der (kurzen) europäischen Menschenrechtsgeschichte, und nur so scheint die Fortentwicklung der Menschenrechte möglich. (31)

Xenophobie und Neugierverhalten:
Fremdenfurcht hat einen Gegenspieler

An einem anderen Beispiel laßt sich belegen, wie durch die dynamische Interpretation scheinbar stabiler (oder von vielen als stabil vorausgesetzter Strukturen) ebenfalls neue Spielräume gewonnen werden können - in diesem Falle nicht durch Historisierung, sondern durch ein Gegenspieler-Modell: Eine Kraft, eine Disposition wird durch einen Gegenspieler in Schach gehalten, so wie im biologischen Bereich beim Menschen Sympathikus und Parasympathikus miteinander im Wechselspiel agieren.
Unter dem Stichwort Xenophobie" wird immer wieder behauptet, die Menschen hätten notwendigerweise eine unüberwindbare Furcht Fremden gegenüber, und diese sei ein überlebensnotwendiger Bestandteil der genetischen Grundausstattung mit Verhaltensmustern. Wir brauchen nicht die häufig geführte Diskussion mit Irenaus Eibl-Eibesfeldt und der Ethologie wieder aufzugreifen(32) sondern finden an eher ungewohntem Ort ebenfalls einschlägige Annahmen. Vorsichtig formulieren Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid: "Keiner Gesellschaft war je der zivile Umgang mit dem Fremden angeboren. Vieles spricht dafür, daß die Reserve ihm gegenüber zu den anthropologischen Konstanten der Gattung gehört; und die Moderne hat mit ihrer steigenden Mobilitat dieses Problem allgegenwärtiger gemacht als zuvor. Wer dies leugnet, arbeitet der Angst vor dem Fremden und den aggressiven Potentialen, die in ihr schlummern, nicht entgegen."(33) Aber denen, die eine biologisch vorprogrammlerte Furcht vor dem Fremden unterstellen, laßt sich genauso gut eine vorprogrammierte und genauso überlebenswichtige Neugier dem Fremden und Neuen gegenüber entgegenhalten. Von "Neugierverhalten", "explorativem Verhalten" sprechen manche, Tibor Scitovsky nennt es "extrinsische Exploration". (34)
"Zwischen Furcht und Verlangen" ist ein zentrales Begriffspaar in der Frankfurter Ausstellung "Fremde, die Herausforderung des Anderen". In einer Inszenierung changieren dort die Attribute von Exotik im Spannungsverhältnis von Begehren und Ablehnung, etwa am Beispiel der Romantisierung und der Ausgrenzung von Sinti und Roma.
Wir brauchen also nicht zu verschweigen, daß es so etwas wie Fremden- furcht gibt, und sie mag auch ganz tief im genetischen Potential verankert sein, aber sie hat einen genauso fest gegründeten Gegenspieler. Und manwird nicht vergessen dürfen, daß beide Verhaltensmöglichkeiten für die Praxis des Alltagshandelns erst in kulturell und historisch spezifizierter Form wirksam werden. Das zu betonen wäre wichtig, um einen leichtfertigen Umgang mit "Xenophoble" zu verhindern. (35)

Ein Fremdling auf Erden
Ähnlich ist die Relation zwischen dem Wunsch noch Beheimatung und der Heimatlosigkeit zu sehen. Theologisch, ja, wenn man will auch anthropologisch oder philosophisch, hat der Mensch auf Erden keine dauernde Heimat und ist immer ein Fremdling. Richard Sennett hat daraus eine positive Anthropologie der Fremdheit gemacht, die Unbehaustheit als Voraussetzung der Menschwerdung betrachtet: Derjenige, der aus bestimmten Verhältnissen ausgebrochen ist, ein entwurzeltes Leben führt, kann sich zum menschlichen Wesen entwickeln: Indem er durch die Weit streift, vermeidet er blindes, ritualhaftes Teilhaben." (36) Dies exemplifiziert Sennett am Beispiel des Ödipus, den seine zweite Wunde, die Entwurzelung, erhöht. "Wie für die Juden des Alten Testaments, waren auch für die Christen das Umherziehen und Aus- gesetztsein die direkte Folge ihres Glaubens."(37) Entsprechend lesen wir im Brief des Paulus an die Hebraer 11, 13: "Diese alle sind gestorben im Glauben und haben die Verheißungen nicht empfangen, sondern sie von ferne gesehen und sich ihrer getröstet und wohl genügen lassen und bekannt, daß sie Gäste und Fremdlinge auf Erden waren."
Gleichwohl existiert als Gegenspieler der Wunsch nach Beheimatung, nach Beständigkeit - für Sennett ist dies ein problematisches Element: "Diese Sehnsucht nach 'place' (Heimat) widerspricht aber den humanistischen Werten der Heimatlosigkeit wie sie zu Beginn westlicher zivilisation entstanden."(38) "Nur das deutliche Bewußtsein, 'fehl am Platze' zu sein, gibt einem das Gefühl von Freiheit" - an dem z.B. der Emigrant teil hat, wenn er seine Heimatlosigkeit innerlich akzeptiert. Es gilt "...das Versprechen von Modernität: Werte enstehen aus Entwurzelung, aus räumlicher Veränderung, aus Bewegung."(39)
Es bringt freilich nicht viel, wenn man die Unbehaustheit anthropologisiert und zum Grundmerkmal aller Menschen macht. Hans Magnus Enzensberger, bekannt für provokative Zuspitzungen, die mit der Realität nicht mehr viel zu tun haben brauchen, unterstellt, daß "Seßhaftigkeit nicht zu den genetisch fixierten Eigenschaften unserer Art" gehört. (40) Der Essay, aus dem dieses Zitat stammt, ist in einer Zeit entstanden - wie lange ist das schon wieder her? -, in der Mitteleuropa beherrscht war von der Furcht vor den aus dem Osten herandrängenden Massen von Migranten. Aber was er hier als Migrationsdrang konstruiert, läßt sich auch mit der Figur vom "Neugierverhalten" als Gegenspieler der Fremdenfurcht erklären. Wie in anderen Fallen ist es nicht die Biologie der Gene, die einen Käfig für den Menschen herstellt, sondern durch miteinander rivalisierende Optionen wird Plastizität menschlichen Verhaltens und damit Kulturfähigkeit erreicht.
Nicht erst mit dem Verblassen der Verheißungen der Moderne verliert eine solche Anthropologie der Fremdheit ihre Attraktivität. Sie kann dem Alltagsbewußtsein keine Befriedigung geben, ist dieses doch immer auf der Suche nach einer Form von ener Heimat, die Ernst Bloch in seiner verborgen-negativen philosophischen Anthropologie in ein vollkommen gedachtes Noch-Nicht verlegt, das erst recht nach 1989, aber für viele auch vorher schon nur im Niemals liegen kann. Die Erfahrungswelt des Alltags schafft sich ihre kleinen Heimaten (und sei es in Form kleiner Fluchten) immer wieder neu. Wenig anfangen kann der Alltagsverstand mit einem entheimateten Kosmopolitismus (41), der, Vielfalt genießend, überall zu Hause ist: Wenn das alle täten, wäre schließlich nirgendwo ein beständiger Ort, und Reproduktion sowie Naturstoffwechsel kämen leicht zu kurz. Deshalb ist auch hier ein Gegenspieler-Modell interessant, das die Menschen immer auf der Suche und manchmal auch im Angekommensein wiederfindet.
Das Beziehungsgeflecht zwischen Heimat, Neugierverhalten und Fremdenangst beschreibt Hilmar Hoffmann mit einem schönen Bild: "Wenn Heimat, Beheimatung, Nestwärme, stabile Bezugsgruppen zum Privileg werden und wenn immer mehr darauf verzichten müssen, ja, sie gar nicht erst finden, dann steigt der Aggressionspegel. ... Wehe, wenn die Nestwarme verlorengeht! Ein Fluch liegt über dem Land und auf den Strukturen, wenn den Menschen die einfache Zuversicht für ein Leben in Würde und Geborgenheit abhanden kommt.... Solange Nestwärme dem Menschen ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt, wird er sich über den eigenen Kreis der Familie und der Freunde neugierig herausbewegen, um das für ihn Exotische zu genießen und Vielfalt als Bereicherung zu würdigen."(42)
Forschungen über Gewaltpotential bei Jugendlichen und über fremdenfeindliche Neigungen ergeben ein ähnliches Bild: Man möchte die eigenen Lebensverhältnisse mitgestalten können, statt anonymen Mächten wie dem Arbeitsmarkt oder der Wirtschaft ausgesetzt zu sein. Wenn dieser Wunsch nicht erfüllt wird, wachst die Neigung zur Gewalt und Ausgrenzung. Die Psychoanalytikerin Ursula Baumgardt sagt von der Ich-Identität: "Je stabiler die ist, desto mehr ist es für Individuen und Kollektive möglich, Fremden gegenüber aufgeschlossen zu sein." Fremdenhaß ist für sie letztlich ein Ausdruck einer kollektiven Identitatskrise."(43)
Daraus ergibt sich: Zur Verminderung der Aggressivität den Fremden gegenüber genügt die verbale Beschwörung von Werten der Toleranz und des Miteinander nicht. Worauf es ankommt, ist die Chance zu einer anerkannten und befriedigenden Existenz. Zerfallsgesellschaften ohne staatliches Machtmonopol gewährleisten das genausowenig wie soziale Zustande der Benachteiligung.
Das Gegenbild von Heimat ist Unbehaustheit, Fremde. Für die Theologie mögen Vertreibung, Flucht, Exil zwar Prüfungen Gottes sein, aber für die Individuen sind es gleichwohl existenzbedrohende Ereignisse. Abendländischer Archetypos für dieses Schicksal istdie Flucht der sogenannten "Heiligen Familie" nach Ägypten. Von vielen Malern gestaltet, hat mit am eindrucksvollsten Claude Lorrain in der Gegenüberstellung von Arkadien und dem dunklem Wald, in dem die Fliehenden verschwinden, diese existentielle Bedrohung wiedergegeben. Ein entsprechendes Schicksal kann jeden treffen: Mit einem Federstrich, einem Wort in einem Gesetzestext können Menschen ausgegrenzt, zu Fremden, zu Flüchtlingen gemacht werden. Die Neubeheimatung verlangt ihre ganze Kraft und Lebensenergie - oft genug scheitert sie aus inneren oder äußeren Gründen.
Eine Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland lockt seit Jahrzehnten fremde Arbeitskräfte ins Land. Der Wunsch nach Wachstum und Wohlstand ermutigst die selektive Migration. "Deutschlands Wirtschaft braucht Einwanderer", postuliert Günter Buttler. (44) 1964 wurde der einmillionste Gastarbeiter Armando Sa. Rodrigues aus Portugal mit einem Blumenstrauß und einem Zündapp-Moped begrüßt. Mit Zuwanderern kann man freilich heute fehlende Geburten nicht kompensieren - auch mit positivem Wanderungssaldo wird die Bevölkerung schrumpfen, und die Sicherung der Renten ist kein biologisches Problem, sondern eines der richtigen Verteilung der aus gestiegener Produktivitat erzielten Erträge. (45) Aber eine Entschärfung wenigstens für kurze Zeit verspricht man sich für eine Menge von Problemen. Opportunistischer Multikulturalismus, bezogen auf Altersaufbau der Bevölkerung und Rentensicherung, auf erweiterte Chancen für Arbeitsmarktderegulation, auf den Zugang zu neuen Märkten usf., ist neben aufklärerisch-humanistischen und christlichen Werten ein wichtiger Bestandteil jener Gemengelage von Interessen, die uns eine zunehmende Akzeptanz von Multikulturalität bis weit ins konservative Spektrum hinein gebracht hat."(46)
Deutschland werkelt gleichzeitig global an den Push-Faktoren der Migration: Aus vielen Regionen werden die Menschen durch Kriege, durch die Einbeziehung in Marktproduktion mit hillfe von Industrialisierung, durch Landnutzungsveranderungen (Staudämme, Bergbau, Waldrodungen) und durch unterschiedlich begründete Armut vertrieben - und durch Rüstungsexporte. "Wir wollen nicht, daß mit deutschen Waffen immer mehr Flüchtlinge in unser Land gebombt werden",lautet eine politische Forderung.(47)
Einwanderungsdruck ist so ein in doppelter Weise selbstverschuldetes Schicksal, mit dem sich der deutsche (der industriegesellschaftliche) Weg der Modernisierung auch in den kommenden Jahren wird auseinandersetzen müssen. Und für die Kultur beider, derer die schon lange hier leben (der Deutschen) und der Zuwanderer, bleibt diese Situation eine Herausforderung. Richard Sennett - und hier können wir ihm leicht zustimmen - sagt: "Zum Vergessen laßt sich der Ausländer durch seinen Wunsch noch Assimilation verleiten; Erinnerung bedeutet, daß er sich durch Nostalgie selbst zerstört."(48) zwischen diesen Polen bewegt sich die Fortentwicklung der Kultur in einer staatlich-geographischen Einheit - der Kultur in Deutschland.

Multikulturalität in Geschichte und Alltag
Das Zusammenleben und Aufeinandereinwirken verschiedener ethnisch-kultureller Gemeinschaften in einem Territorium ist nicht die Ausnahme, sondern, historisch gesehen, eher der Normalfall. Ungewöhnlich (und nicht nur eher langweilig) sind ethnisch oder kulturell homogene Gebilde - erst der moderne Nationaistaat machte sie zum Programm. Die praktische Seite der Anerkennung von Vielfalt als positiver Qualität ist die Lebensform der Multikulturalltat (nicht immer allein von der Rechtsstaatlichkeit der "offenen Republik" gewährleistet, sondern, z.B. bei der Sprachpflege, je noch Aushandeln, auch der "positiven Diskriminierung" bedürftig).
Klassisches hochkulturelles Beispiel gelebter Multikulturalität war das spätmittelalterliche Spanien - auch der deutsche Sozialdemokrat August Bebel hat es entsprechend gewürdigt. (49) Der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo hat mit folgenden Worten versucht, die lebendige positive Geschichte der Multikulturalität seiner Heimat zu beschreiben: "Die Geschichte lehrt, daß es kein innerlich reines nationales oder kulturelles Wesen gibt. Das Mosaik der Länder, die heute den europäischen Raum bilden, ist im Laufe der Jahrhunderte durch den befruchtenden Schock entgegengesetzter Einflüsse, aus Kreuzung, Vermischung, Kontrast und Wettstreit entstanden. Diese Dimension von Vielfalt ist zugleich der Spiegel, durch den wir uns sehen - und ein unersetzliches Stimulans. Je lebendiger eine Kultur ist,desto offener ist sie auch, und desto gefräßiger wird sie sich andere Kulturen einverleiben. Ich möchte sogar sagen,daß eine Kultur immer nur die Gesamtsumme der Mischungen und Einflüsse bildet, durch die sie gegangen ist."(50)
Auch Goytisolos Spanien war in lebendigen und prosperlerenden Perio- den kontaktfreudig und off en, wahrend die Phasen der Suche nach den "eigentlichen Werten" solche des Niederganges waren. Ähnliches gilt für die guten Zeiten des "Schmelztlegels" USA, die zwar nie ein solcher waren, aber in guten Zeiten immerhin Formen produktiver gelebter Multikulturalität hervorbrachten.
Auch viele europäische nicht-hochkulturelle Beispiele gelebter Alltags- Multikulturalität kennen wir. Die Forschungen zur Interethnik von Ingeborg Weber-Kellermann z.B. haben sie beschrieben.(51) Der Wiener Volkskundler Helmut Fielhauer berichtet über ein Beispiel aus den Sprachgrenzregionen der alten österreichisch-ungarischen Monarchie. Dort gab es bis in unser Jahrhundert hinein den Brauch des Kinder-"Wechsels". Damit sie die Sprache der jeweils anderen Sprachgruppe lernten, lebten Kinder im deutschböhmischen (aber auch im deutsch-ungarischen) Sprachgrenzgebiet temporär in anderssprachigen Familien, oft in solchen unterschiedlichen sozialen Milieus. Beide Teile profitierten voneinander; Hintergrund und Motiv für diese interkulturellen Hospitationen waren unter anderem die Beziehungen auf den Märkten oder bei der Saisonarbeit. (52)
Solche beliebig vermehrbaren Beispiele (53) für gelebte Multikulturalität und für Lebenspraxen produktiver interkultureller Kommunikation zeigen: Die Menschen können unter günstigen Bedingungen auch bei ethnisch-kulturellen Unterschieden harmonisch miteinander leben, und zwar in überdauernden Lebensformen mit unterschiedlichen parallelen, sich gegenseitig durchdringenden, wirtschaftlich und personell vernetzten Kulturen.
Alltagskonflikte, wie sie überall zwischen Menschen vorkommen, sind im Rahmen solcher ethnischer Pluralltat genausowenig wie in stark geschichteten Gesellschaften beseitigt - aber ethnisch-kultureile Unterschiede sind kein Anlaß für die letztlich nicht erst seit heute für alle Beteiligten tödlichen großen Konflikte. Es ist keinesfalls ausgemacht,daß ethnisch gemischte Gesellschaften instabiler sind als relativ homogene - Kristallisationskerne für Konfliktpotential gab und gibt es, wie wir sahen, auch in religiösen, sozialen oder anderen Unterschieden. Von der Mitte des 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hatten innere gewaltförmig ausgetragene Konflikte meistens soziale Unterschiede (und Ungerechtigkeiten) zum Anlaß. Feindbilder müssen nicht national oder ethnisch sein. Entscheidend für das Aufbrechen von Konflikten ist, ob es genügend Institutionen zur Konfliktregulierung gibt oder nicht.
Voraussetzung für Konfliktvermeidung und -lösung sind ein aufrechterhaltenes staatliches Gewaltmonopol und Rechtstaatlichkeit. Wo sie - aus welchen Gründen auch immer - zerfallen, da tritt die Rückbesinnung auf die "Bindekraft kleiner Gemeinschaften", auf Ethnos, Religion, Stamm oder Familie in den Vordergrund.
Ethnisch-rassisch-religiöse Konflikte resultieren nicht aus der "Natur" des Menschen, sondern sind Produkt von Strukturen und von Geschichte. Zwar sind die Menschen immer zu Aggressivität und Fremdenfeindlichkeit fähig, aber üblicherweise existieren auch Eigenschaften wie Neugierde, Mitleid und Liebe, die als Gegenspieler wirken und unter günstigen Bedingungen mit entsprechenden Institutionen für Stabilität und Frieden sorgen. Heute kommt es darauf an, Vielfalt und Unterschiede ertragen zu lernen: Die "Bewahrung der Schöpfung" und die Erhaltung von Frieden können nicht darauf angewiesen sein, daß alle katholisch, protestantisch, muslimisch oder marktfundamentalistisch werden.
Anmerkungen
1 Filipovic 1993.
2 Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 1 995.
3 Vgl. die Beiträge von Suhrbier und Raabe in diesem Band. Vgl. allgemein auch Becker 1994.
4 Geliner 1991: 87.
5 Vgl. Haller 1995.
6 Novalis 1986: 34, im 3. Kapitel über den König.
7 Bauer1924.
8 Gellner 1 991: 91, 93.
9 Cole 1991: 36.
10 Orywal 1993.
11 Fehrle 1979: Einleitung, VIII/IX
12 Vgl. Steinbach 1962.
13 Vgl. als aktuelle wissenschaftsgeschichtliche Darstellung: Jacobeit u. a. 1994.
14 Eine ausführliche Darstellung mit weiterführender Literatur bei Haller 1995.
15 Genetische und biologische Ursachen als Gewaltquelle anerkannt. In: Frankfurter Rundschau v. 16.11.1992.
16 Vernet 1993: 30 (im Text ein Zitat von Jean-Pierre Changeux). Vgl. zur modernen Hirnforschung auch Spektrum der Wissenschaft Nov. 1992 und Zimmer 1995: 45f., sowie Pöppel 1993.
17 Herzinger 1993. -Die Verwandtschaft mit der Argumentation der "Nationalrevolutionäre" springt ins Auge, vgl. Eichberg 1978.
18 A.a.0.
19 Vgl. als aktuelle kritische Darstellungen der Ideengeschichte auch Oberndörfer 1993.
20 Vgl. Haller 1995.
21 Hier wird anders argumentiert als Richard Sennett (1992) dies tun würde, der durch die Anthropologisierung der Fremdheit eine Seite dieser Dialektik überbetont, vgl. unten.
22 Oberndörfer 1994: 1073.
23 Habermas 1993: 173.
24 Dieter Oberndörfer gesteht auch der "offenen Republik' jene von Carl Schmitt nur dem Nationalstaat zugebilligte Fähigkeit der Abgrenzung zu, solange der Welt- staat nicht verwirklicht ist" und solange Partikular- und Gemeinwohlinteressen rivalisieren, vgl. Oberndörfer 1993: 133.
25 Geliner 1991: 16.
26 Gellner 1 991: 85.
27 Tibi 1994.
28 Vgi. Oschlies 1994.
29 Zur Person. In: Frankfurter Rundschau (D-Ausg.) v. 10. August 1994.
30 Statement on Human Rights.
31 Vgl, zur Menschenrechtsdiskussion auch Hoffmann 1995. Vgl. zur Historizität der Menschenrechte auch Kuczynski 1 978.
32 Vgl. Haller 1995.
33 Cohn-Bendit 1991.
34 Scitovsky 1 989: 35.
35 Guha 1991: 80.
36 Sennett 1992: 96; vgl. auch Komper 1991.
37 A.a.o. 97.
38 A.a.0. 98.
39 A. a. 0. 104, 110.
40 Enzensberger 1992.
41 Vgl. Coulmas 1990 und Witte 1994.
42 Hoffmann 1990: 174, 176.
43 Zitiert nach Böhm 1 991 ; vgl. auch Winkler 1994 und Jansen/Prokop 1 993.
44 Buttler 1992; vgl. allgemein Bade 1992.
45 Schui 1994; vgl. Klose 1993.
46 Vgl. z.B. Geißler 1995.
47 Herta Däubler-Gmelin MdB, Sitzung des 12. Deutschen Bundestages vom 2.4.1992.
48 Sennett 1992: 101.
49 Bebel 1889.
50 Goytisolo 1 991.
51 Vgl. z.B. Interethnik 1973.
52 Fielhauer 1978.
53 Vgl. Gyr 1991.

aus: Fremde. Die Herausforderung des Anderen hrg. Mona.B.Suhrbier Museum für Völkerkundee Frankfurt am Main 1995

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Most recent revision: April 07, 1998

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